Die Pellinor Saga Bd. 1 - Die Gabe
wie sie nun dachte, auch irgendwie traurig. Sogar damals war ihr nicht wirklich in den Sinn gekommen, an ihm zu zweifeln. Sie dachte an sein ernstes, lebhaftes Gesicht, das häufig so getrieben, so abgekapselt wirkte; doch dann hellte es sich wieder mit jenem herzlichen Lächeln auf… Was war sie für ihn? Ein Werkzeug des Lichts, ein Ding geheimnisvoller Macht… doch gewiss nicht nur das, oder? Was dachte sie sich eigentlich dabei, auf solch gefährlichen Wegen mit diesem Mann nach Norloch zu fliehen, einem Ort, von dem sie nicht das Geringste wusste? Was, wenn er sich irrte? Würde er sie dann im Stich lassen?
Da sie immer noch keine Ruhe fand, wickelte sie sich die Decke um die Schultern und kletterte aus dem Bett. Sie wanderte im Dunklen in das Zimmer, in dem sie gegessen hatten, ertastete sich langsam den Weg die Wand entlang und dann zur Vordertür, die sich unter dem Druck ihrer Hand geräuschlos öffnete. Barfuß trat sie hinaus auf den Vorbau. Hoch über ihr hing ein Halbmond zwischen den Sternen. Am Himmel trieben ein paar Wolkenfetzen, aber Maerad spürte keinen Wind. Sie kuschelte sich auf ein gepolstertes Sofa, das auf dem Vorbau stand, wickelte sich gegen die Kälte fest in die Decke, blickte zum Firmament und begrüßte die Sterne wie alte Freunde; den losen Gürtel Melchars, das Große Boot und den einzelnen Stern Ilion, der wie ein Kristall tief über dem Horizont funkelte. Die stumme Schönheit der Gestirne löste Maerads Unruhe, und sie verweilte auf der Veranda, bis sie, ohne es zu merken, tief und fest einschlief.
So fand Cadvan sie früh am nächsten Morgen vor, die Haare wie Spinnweben über Augen und Mund gebreitet. Hätte sie seine Züge gesehen, wäre ihr darin eine Zärtlichkeit aufgefallen, die er ihr selten zeigte. Er beugte sich über sie und strich ihr das Haar aus dem Gesicht. Sie regte sich und murmelte etwas, erwachte jedoch nicht. Eine Weile betrachtete er sie noch, dann lächelte er, ging wieder hinein und ließ sie schlafen, bis die Sonne hoch genug am Himmel stand, dass ihre Strahlen ihr Antlitz trafen und sie weckten.
Später an jenem Morgen suchte Farndar sie auf und teilte Cadvan mit, dass er Rachida wieder verlassen und nach Süden gehen werde, zu den Grenzen ihres Reiches. Dabei sprach er mit neuer Achtung. »Ihr genießt die Gunst der Herrin«, verriet er Cadvan. »Fremde sind hier höchst selten. Zu meinen Lebzeiten waren noch nie welche hier.« Maerad stand daneben und versuchte, ihrer Unterhaltung zu folgen. Doch die Worte der Hohen Sprache entglitten ihr ständig; sie glaubte nicht, dass sie die Sprache je auf die übliche Weise erlernen könnte, wie es diese Menschen getan zu haben schienen. Irgendwie fühlte sie sich dadurch noch abgekapselter, als wäre sie sogar sich selbst gegenüber eine Fremde. Schließlich wandte Farndar sich ihr zu und verneigte sich höflich. Sie erwiderte die Geste, danach ging er.
»Ich wünschte, ich könnte diese Menschen verstehen«, sagte sie zu Cadvan, nachdem er fort war. »Warum kann ich die Hohe Sprache nicht erlernen? Das sind doch nicht alles Barden, oder?«
»Nein«, gab Cadvan ihr recht. »Mir ist noch kein einziger hier begegnet. Die Dhyllin waren die Einzigen, die auch untereinander ausschließlich die Hohe Sprache verwendeten; diese Menschen müssen ein Überbleibsel jenes Volkes sein. Aus dem Munde derer, die keine Barden sind, besitzt die Sprache nicht die Gaben des Bardentums. Tatsächlich spricht man hier eine eigenartige Mundart davon, aber ich kann sie trotzdem verstehen.«
»Warum kann ich sie dann nicht erlernen?« Mit gerunzelter Stirn nahm Maerad Platz. »Ich habe doch auch keine Mühe, andere Dinge zu lernen. Aber bei der Hohen Sprache vergesse ich jedes Wort, sobald ich es gehört habe. Es rutscht mir einfach aus dem Gedächtnis.«
»Niemand versteht, wie die Sprache den Weg in den Geist von Barden findet«, gab Cadvan zurück. »Aber vielleicht soll sie dir verschlossen bleiben, bis sie sich von selbst einstellt.«
»Ich glaube nicht, dass ich sie je lerne«, entgegnete Maerad.
»Das wirst du«, widersprach Cadvan. »Sie schlummert schon jetzt in dir.« »Was, wenn Ihr Euch irrt?«
Cadvan bedachte sie mit einem leidenschaftslosen Blick, dann setzte er sich neben sie. »Natürlich kann ich mich irren«, räumte er ein. »Aber darüber sollten wir uns beide nicht den Kopfzerbrechen. Wir müssen tun, was wir können, im Wissen oder Erahnen dessen, was wir können. Aber falls es dich tröstet: Meine
Weitere Kostenlose Bücher