Die Pellinor Saga Bd. 1 - Die Gabe
gezeichnet, von Schmerzen und Verzweiflung verkrüppelt, ihr Licht erloschen; nein, groß, stolz und stark, wie Maerad sich ihrer kaum erinnerte. In dem Traum stand sie in einem hohen Kristall türm und spielte Harfe. Dabei flogen Vögel in herrlichen Farben - saphirblau, golden, smaragdgrün, scharlachrot- aus ihrem Instrument und umkreisten sie in einem anmutigen Tanz. Maerad rannte zur Turmmauer und rief nach ihrer Mutter. Doch so sehr sie auch suchte, der Turm besaß keinen Eingang. Sie trat nah an das Glas heran und rief abermals, Mama, Mama, aber ihre Stimme klang erbärmlich leise. Ihre Mutter hörte sie nicht und spielte weiter, ging völlig in ihrer Musik auf. Maerad schlug mit den Fäusten gegen die harten, kalten Wände, bis ihre Hände aufrissen und bluteten. Doch Milana drehte sich immer noch nicht zu ihr um, und schließlich sank Maerad erschöpft zu Boden. »Wie konnte sie mich verlassen?«, schluchzte sie bei sich. »Wie konnte sie vergessen …«
Als sie erwachte, stellte sie fest, dass ihre Wangen nass und kalt vor Tränen waren. Sie drehte sich herum und schaute durch das Fenster in den Garten. Draußen herrschte noch tiefste Nacht. Am kalten Himmel funkelten die Sterne und zauberten unstete Schatten auf das kühle Gras, das vor Tau gräulich wirkte. Das Bildnis ihrer Mutter brannte vor ihrem inneren Auge, hell und unermesslich weit entfernt. Wenn sie die Oberste Bardin von Pellinor war, dachte sie bei sich, warum hat sie uns dann nicht aus Gilmans Feste befreit? Warum konnte sie nicht mit mir flüchten, wie Cadvan es getan hat?
Maerad konnte sich nicht entsinnen, dass Milana je ihren Vater erwähnt hatte, dennoch wusste sie plötzlich mit unzweifelhafter Klarheit, dass sein Tod ihre Mutter zugrunde gerichtet hatte. Sie fragte sich, wie es sein musste, jemanden so zu lieben, wie ihre Mutter ihren Vater oder wie Ardina Ardhor geliebt hatte. Maerad würde sich nie auf dergleichen einlassen; es war viel zu gefährlich. Es hatte Milana nach und nach umgebracht. Und selbst Maerad hatte nicht ausgereicht, um sie zu retten. Warum eigentlich nicht? Ein Schmerz, der ihr zuvor nie bewusst gewesen war, brach auf und flutete durch ihre Brust. Warum hatte sie ihre Mutter nicht retten können? Warum musste Milana so elend, so zerbrochen sterben, an einem Ort fernab der strahlenden Welt, die ihr zugestanden hätte?
Maerad setzte sich auf, starrte traurig ins Leere und zog sich die Laken um die Schultern. Sie war überhaupt nicht mehr schläfrig. So vieles geschah mit ihr, und sie wusste nicht, was sie davon halten sollte. Die Ereignisse der letzten Wochen drehten sich in ihrem Kopf; sie fühlte sich völlig verwirrt. Sie dachte an Silvia und daran, wie sehr sie die Bardin bereits liebte, wie sie Maerad in der kurzen Zeit in Inneil eine bessere Mutter gewesen war als irgendjemand sonst. Außer Milana/bevor Pellinor niederbrannte, fügte sie sich in Gedanken pflichtbewusst hinzu; doch in Wahrheit konnte sie sich an Pellinor kaum erinnern.
Und die Elidhu hatte sie Tochter genannt. Was hatte das zu bedeuten? Und woher wusste es Ardina? Maerad sah rundum gewöhnlich aus. Was brandmarkte sie? Und was war diese Flamme gewesen, die den Kulag und den Untoten vernichtet hatte? War sie wirklich von ihr ausgegangen? War es das, weshalb die Untoten siejagten? Plötzlich stieg ein lebendiges Bild von Dernhil vor ihrem inneren Auge auf, sein Gesicht strahlend vor Begeisterung, der Zeigefinger auf einer Buchseite… Unbehaglich überlegte sie, was Cadvan und Silvia gemeint haben mochten, als sie so unbeschwert über Liebe, über Herzensangelegenheiten gesprochen hatten. Er ist für mich gestorben, dachte sie elend. Warum ? Was bin ich ? Wie soll ich es je herausfinden?
Ruhelos fragte sie sich, ob sie und Cadvan Norloch je erreichen würden und, falls ja, ob es dort eine Antwort auf einige ihrer Fragen gäbe. Ihre Gefühle, was Cadvan betraf, waren ihr völlig schleierhaft. Ihr war klar, dass sie ihm vertraute, wie sie noch keinem Mann in ihrem Leben vertraut hatte, ausgenommen vielleicht ihren Vater, an den sie sich allerdings kaum erinnerte. Doch sie verstand eigentlich nicht warum. Vermutlich, weil auch Silvia ihm vertraute; aber tief in ihrem Inneren wusste sie, dass es an mehr lag. Sie erinnerte sich noch daran, wie er im Kuhstall zum ersten Mal vor ihr gestanden hatte Vorjahren, wie es schien, obschon tatsächlich erst ein paar Monate verstrichen waren: Sein Antlitz hatte grau vor Erschöpfung gewirkt, verwundbar und,
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