Die Pellinor Saga Bd. 1 - Die Gabe
sorgsamer um als sonst. Für sie war die Laute schon immer kostbar gewesen, doch diese Barden betrachten sie geradezu mit Ehrfurcht.
»Das ist das Pergament, das ich von Dernhil bekommen habe«, sagte sie und streckte es Nelac entgegen. Der alte Barde unterzog es einer eingehenden Prüfung. »Ich lese darin den wahren Namen derjenigen, die vorhergesagt wurde«, meinte Cadvan und blickte fragend zu Nelac. »Was denkst du?«
»Suchet und behütet die Feuerlilie, die vom Schicksal Ausersehene, die an finsteren Orten umso strahlender erblüht und lange in Dunkelheit geschlafen hat; aus einer solchen Wurzel wird die Weiße Flamme neu ersprießen, wenn ihre Saat im Herzen vergiftet scheint«, las Nelac aus dem Pergament vor. »Hmmmm.« Kurz schaute er zu Maerad auf, dann wieder zurück auf das Pergament. »Er spricht eindeutig nicht von der Lilie Pellinors, und mir scheint klar, dass er sich auf einen wahren Namen bezieht; von diesen heißt es manchmal, dass sie >von einem finsteren Ort< stammen. > Nehmet die Zeichen wahr und seid nicht blind! Im Namen des Lichts und zugunsten der Sprache, deren Ursprünge im Baumlied liegen, das alles nährt. Das Baumlied? Es ist wahrhaft lange her, dass ich daran zuletzt gedacht habe …«
»Du weißt davon?« Mit leuchtenden Augen beugte Cadvan sich vor. »Es ist ein Hinweis, es hat etwas mit den Elementaren zu tun. Und da ist noch etwas. Maerad, erzähl ihnen von der Elidhu.«
Maerad schilderte die Begegnung mit der Elidhu im Wagwald und gab das Lied wieder, das sie ihr vorgesungen hatte. Saliman und Nelac lauschten andächtig schweigend, und Maerad genoss die Erzählung, da sie das Erstaunen ihrer Zuhörerschaft spürte. Selbst Hem schaute mit offenem Mund auf und vergaß ausnahmsweise zu essen. Maerad dachte an die seltsame Erkenntnis, dass Ardina und die Elidhu ein und dieselbe waren. Aber sie durften Rachida nicht erwähnen, und außerdem hatte sich nicht einmal Cadvan in Ardinas Offenbarung eingeweiht. »Elementarblut im Haus Karn! Das überrascht sogar mich!«, rief Nelac schließlich aus. »Aber ich bin sicher, du hast recht, es gibt da eine Verbindung. Ich werde tief in meinem Gedächtnis kramen, um sie zu finden. Das Baumlied ist eine uralte Überlieferung aus der Zeit Afinnils, längst in Vergessenheit geraten; es hat mit der Hohen Sprache zu tun. Irgendwie ist es auch an die Verheißene geknüpft, nur kann ich mich nicht recht erinnern … Es gibt so viele Lieder über die Verheißene. Und alle sind rätselhaft.«
Eine wunderschöne Tenorstimme erfüllte plötzlich den Raum:
» Wächst die Lilie im Gerank, Rankt die Rose auf der Welle, Dreigezüngeiter Stimme Klang Edil-Amarandh erhelle.«
Überrascht schaute Maerad auf. Es war Saliman, den sie noch nie hatte singen hören. »Was war das?«, wollte sie wissen.
»Das stammt aus Pels Hoheliedern«, antwortete er. »Sie wurden unmittelbar nach der Großen Stille niedergeschrieben. Die Lilie scheint mir recht klar zu sein, wenn wir Lanorgils Weissagung als Geleit heranziehen. Was die rankende Rose angeht, so steht sie für das Haus Karn.«
»Tatsächlich?«, fragte sie erstaunt.
»Dessen Zeichen ist eine Rose«, bestätigte Cadvan. »Eine Wildrose.« Grüblerisch runzelte er die Stirn. »An die Hohelieder hatte ich gar nicht gedacht«, gestand er. »Dreigezüngelt? Das bedeutet doch gewiss die Hohe Sprache, Annaren und die Sprache der Elidhu, oder?« Mit vor Aufregung leuchtenden Zügen schaute er zu Nelac.
»Willst du damit andeuten, dass Maerad die Verheißene sei?«, fragte Nelac, dessen Augenbrauen beinahe in seinem Haar verschwanden.
»Ja, ja, selbstverständlich.« Cadvan grübelte wieder geistesabwesend. »Die Welle. Wofür steht das? Die Welle bedeutet so viele Dinge …«
»Cadvan, das ist eine gewichtige Behauptung!«, rief Nelac aus. »Meinst du das ernst?«
Cadvan starrte Nelac unverwandt in die Augen. »So ernst, wie ich je etwas gemeint habe«, antwortete er. »Not erweckt das Licht, so sagt man. Bezweifelst du etwa, dass wir in Zeiten der Not leben?«
Nelac erwiderte seinen Blick, ohne zu blinzeln. Langsam nickte er und seufzte. Er drehte sich Maerad zu, und sein Blick grub sich tief in ihren Geist, viel suchender, als er sie am Abend zuvor angesehen hatte. Überrascht fuhr sie zusammen. Plötzliche Stille kehrte in den Raum ein. Dann vollführte er eine seltsame Geste: Langsam sank sein Kopf auf die Brust, während seine rechte Hand an den Nacken wanderte und sich darauflegte. So saß er eine
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