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Die Pellinor Saga Bd. 1 - Die Gabe

Die Pellinor Saga Bd. 1 - Die Gabe

Titel: Die Pellinor Saga Bd. 1 - Die Gabe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alison Croggon
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kroch ein dunkler Nebel über das Land, und wieder hörte sie Wehklagen und die Stimme, die rief: Schau nach Norden! Sie spürte aufkeimende Panik, als ein sich auflösender Schatten sie heimsuchte, dann ertönte, begleitet von der übelkeiterregenden Furcht eines Albtraums, die tote Stimme. Mit betäubendem Entsetzen erkannte Maerad, dass die Stimme sich der Hohen Sprache bediente, allerdings in einer abgewandelten, verzerrten Form, sodass es nicht mehr eine Sprache hehrer Schönheit war, sondern des Bösen und der Leere, eine Sprache umgekehrter Macht. Und diesmal verstand sie die Worte. Es gibt mich wieder, verkündete die Stimme, doch niemand wird mich finden, denn ich lebe in jedem menschlichen Herzen. Danach begann sie zu lachen, und das Gelächter schmerzte Maerad. Dann entkam Maerad den Klauen des Albtraums, indem sie sich im Bett hin und her warf und schließlich erwachte.
    Am ganzen Leib zitternd setzte sie sich auf und sah sich um. Im Zimmer herrschte völlige Stille. Ein matter Lichtstrahl drang durch die Fensterlaibung herein und tünchte den Raum in Silber. Sie ließ den Blick prüfend umherwandern; da war ihre Laute, dort ihr Buch, die Flöte, die sie von der Elidhu erhalten hatte…
    Während sie auf dem Bett saß und erfolglos versuchte, ein überwältigendes Gefühl der Furcht abzuschütteln, klopfte es zögerlich an der Tür.
    »Maerad?« Es war Hem.
    »Ja?«
    Hems blasser, vom Schlaf zerzauster Kopf spähte um die Tür herum.
    »Maerad, darf ich bei dir schlafen? Ich habe schlimme Träume … und das Zimmer ist so groß und dunkel…«
    Maerad nickte. Hem kroch wortlos zu ihr ins Bett. Sie legte sich hin und schlang die Arme um seinen dürren, knochigen Leib. Binnen weniger Lidschläge schnarchte er, und es dauerte nicht lange, bis auch Maerad zurück in einen schwarzen, traumlosen Schlaf sank.
    Maerad schlug die Augen auf. Alles, was sie sehen konnte, war eine weiße Fläche, über die ein goldenes Licht tänzelte. Fasziniert beobachtete sie es eine Weile, dann wurde ihr allmählich klar, dass sie an eine Decke starrte. Sie dachte, sie müsste sich in Inneil befinden; doch dort bestanden die Decken aus Stein und waren nicht weiß. Dann kehrte plötzlich die Erinnerung zu ihr zurück, und sie setzte sich jäh auf. Hem saß in der Ecke und aß.
    »Du schläfst wie ein Murmeltier«, sagte er. »Ich warte schon ewig, dass du endlich aufwachst. Ich bin schon seit Stunden munter.«
    »Wie spät ist es?« Maerad fuhr sich mit den Fingern durchs Haar.
    »Drei Stunden nach Mittag.« Hem nahm einen weiteren Biss von seinem Brot. »Außerdem schnarchst du.«
    »Wie geht es Cadvan?« Maerad schwang die Beine aus dem Bett und sah sich nach ihren Kleidern um.
    »Weiß ich nicht.« Hem zuckte mit den Schultern. »Wahrscheinlich schläft er, so wie du.«
    »Geh weg, damit ich mich anziehen kann.«
    »Na schön.« Abermals zuckte Hem mit den Schultern. »Unten gibt’s was zu essen, falls du magst. Aber ich muss zurückkommen und dich hinführen - Saliman macht sich Sorgen, dass du dich sonst verirren könntest.« Maerad warf ihr Kissen nach ihm, und er huschte aus dem Zimmer.
    Nachdem Maerad sich angekleidet hatte, trat sie ans Fenster und schaute hinaus. Der Tag war klar und wunderschön, als hätte das Unwetter der vergangenen Nacht den Himmel reingewaschen. Sie konnte über die Häuserdächer hinab ins Tiefland von Carmallachen und darüber hinaus auf das Tal von Norloch hinausblicken. Maerad bewunderte gerade die Aussicht, als ihr plötzlich mit einem Schreck, der ihr durch die Knochen fuhr, der Traum der letzten Nacht einfiel. Er entfesselte eine Woge der Übelkeit, die in den Zehen begann und bis zum Kopf emporschwappte. Ihr wurde so schwindlig und schlecht, dass sie sich am Tisch festhalten musste.
    Es war eine trübsinnige Maerad, die sich zehn Minuten später zu Hem gesellte und nach unten ging.
    Cadvan und Saliman befanden sich bereits in ein Gespräch vertieft in Nelacs Wohnzimmer. Als Maerad und Hem eintraten, schauten sie auf. Cadvan war immer noch sehr blass, und tiefe Schatten furchten seine Züge. Die mit winzigen Fischgrätenstichen überzogenen Peitschenstriemen hoben sich deutlich von der Haut ab, das schwarz umrandete Auge ging mittlerweile in das Farbengemisch eines Sonnenuntergangs über. Aber der Tod, der ihm am Vorabend ins Gesicht geschrieben gestanden und Maerad so beunruhigt hatte, war verschwunden.
    »Guten Morgen«, begrüßte Cadvan sie. »Oder, besser gesagt, guten Nachmittag.

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