Die Pellinor Saga Bd. 1 - Die Gabe
hast du stattdessen beinahe mich einem Seelenblick unterzogen!« Er schüttelte den Kopf, und die beiden saßen eine Weile schweigend nebeneinander. Maerads Kopfschmerzen verflüchtigten sich. Sie fühlte sich benommen und leer, doch da war auch ein sonderbares Gefühl der Erleichterung, als wäre sie von einem großen Geschwür befreit worden.
Unvermittelt stand Cadvan auf und bürstete sich ab. Er schien von einer neuen Entschlossenheit beseelt zu sein, als wären die Zweifel, die ihn zuvor geplagt hatten, nun zerstreut. »Wir müssen von hier aufbrechen«, verkündete er. »Die Sonne steht bereits hoch am Himmel, und wir haben einen weiten Weg vor uns.«
Maerad blickte mit verkniffenen Augen zu ihm empor. »Wohin gehen wir?« »Ich denke, ich muss dich nach Norloch mitnehmen. Aber bis dorthin ist es ein langer Weg. Wir müssen zuerst Proviant und nach Möglichkeit Pferde finden.« Mitten auf der Lichtung verneigte er sich vor den Bäumen und bedeutete Maerad, es ihm gleichzutun. Sie rappelte sich auf die Beine. »Wir müssen den Bäumen für ihre Gastfreundschaft danken«, erklärte er. »Sie sind gut zu uns gewesen.« Dann hob er sein Bündel auf und marschierte aus dem Hain.
Maerad verweilte noch kurz, bevor sie den Schutz der Birken verließ, um einen letzten Blick des frühen Sonnenlichts zu erhaschen, das durch die Frühlingsblätter schien. Sie fand, dass der Hain den schönsten Ort darstellte, den sie je gesehen hatte. Das Licht brach sich zu einem silbrigen und goldenen Glitzern auf dem Boden, und die verschlungenen Schatten der Äste tanzten Reigen mit den schimmernden Halmen des weichen Grases, das sich sanft in der Frühlingsbrise wiegte. Danke, murmelte sie leise, verneigte sich und empfand das Ritual als sonderbar angemessen: Die Birken wirkten tatsächlich lebendiger als die meisten Bäume. Einen Augenblick lang dachte sie fast, sie würden ihr antworten, und sie schienen ein wenig traurig zu rascheln, als wären sie Freunde, die Lebewohl sagten.
Viertes Kapitel
Kampf gegen die Werwesen
»Warum ist es so still?«, fragte Maerad. »Ist es hier immer so?«
»Nein, eigentlich nicht. Das gefällt mir nicht«, erwiderte Cadvan. »Hoch über uns sind Vögel. Ich kann nicht erkennen, um welche es sich handelt. Vielleicht beobachten sie uns. Es fühlt sich an wie die Ruhe vor einem Sturm, aber heute Nacht wird es keinen Sturm geben. Morgen vielleicht. Nein, es ist etwas anderes.«
»Habt Ihr eine Ahnung, was es sein könnte?«
»Ja. Aber ich mag mich irren. Was ich vermute, ist, dass der Landrost seine Boten ausgesandt hat und die Jagd eröffnet ist. Ich habe heute nur Krähen gesehen, alle anderen Vögel verstecken sich.«
»Die Jagd?«, hakte Maerad stockend nach. Ihr wurde klar, dass Cadvan recht hatte, was die Krähen anging - auch sie hatte den ganzen Tag keine anderen Vögel gesehen. Sie marschierten in südöstliche Richtung. Die Berge befanden sich zu ihrer Rechten, die Wälder zu ihrer Linken. Der blassblaue Himmel war klar und kalt, und den ganzen Vormittag über hatte die Sonne sie kaum gewärmt. Rings um sie wirkte die Erde durch das fahle Grün des beginnenden Frühlings lebendig. Schneeglöckchen und Narzissen spitzten durch das Gewirr der Kräuter und Gräser, Majoran und wilde Minze setzten intensive Düfte frei. Im Windschatten der Hügel wuchsen niedrige, struppige Bäume und Grüppchen verkümmerter Kiefern, gebeugt von den Winden und umgeben von Stechginster und Dornensträuchern. Überall gedieh eine blassblaue, wie ein Stern geformte Blume, die Cadvan als Aelorgalen bezeichnete. »>Blume der Morgenröte< in der Hohen Sprache«, erklärte Cadvan. »Sie wächst nur hier im Norden.« Maerad versuchte, den Namen zu wiederholen, stellte jedoch fest, dass ihre Zunge darüber stolperte, und bald konnte sie sich überhaupt nicht mehr daran erinnern.
Es war eine wunderschöne Landschaft, doch Maerad empfand sie als sonderbar einsam. Ihre Schritte widerhallten laut in der Leere; soweit das Auge reichte, schienen Cadvan und sie die einzigen Lebewesen zu sein. Nirgends gab es Anzeichen auf menschliche Besiedlung, wenngleich immer wieder grasbedeckte Rücken und Erdwälle, die zu regelmäßig wirkten, um natürlich entstanden zu sein, für Stolpergefahr sorgten. Vielleicht handelte es sich um die Überreste längst verschwundener Bauwerke. Außerdem sahen sie kaum Tiere - nur einige Hasen, die Haken schlagend im Wald verschwanden, das war alles. »Ich dachte, der Landrost sei nur ein
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