Die Pellinor Saga Bd. 1 - Die Gabe
sich schließlich zu ihr umdrehte. Maerad funkelte ihn düster an, was ihn zu überraschen schien. »Bist du immer noch wütend? Lass den Arger beiseite, Kind. Er ist zu nichts nütze.«
»Ich habe gesagt, ich bin kein Kind«, gab Maerad mürrisch zurück. »Hört auf, mich wie einen Trottel zu behandeln.«
»Wenn du kein Kind bist, dann benimm dich nicht wie ein Kind«, erwiderte Cadvan unwirsch. Er setzte dazu an, sich von ihr zu entfernen, dann jedoch hielt er inne, seufzte, drehte sich erneut zu ihr um und streckte ihr die Hand entgegen. »Maerad, das ist lächerlich. Es tut mir leid. Ich bin es gewohnt, allein zu reisen. Verzeih, wenn ich dir gegenüber unhöflich war. Ich bin müde, und wir haben bis zum nächsten Unterschlupf noch einen langen Weg vor uns. Dieser Ort bereitet mir Sorgen; ich will die Nacht nicht unter freiem Himmel verbringen. Hören wir auf zu zanken, ja?« Langsam ergriff Maerad die ihr dargebotene Hand, nickte und schluckte. Sie fühlte sich unter Cadvans ernstem Blick taktlos, heißspornig und zickig.
»Ich brauche deine Hilfe«, gestand er. »Maerad, sei versichert, dass ich dir zur rechten Zeit viele Dinge erzählen werde und es jetzt nicht tue, weil ich es nicht ertragen kann nicht, weil ich geringschätzig über dich denke. Einige andere Dinge kann ich dir nicht anvertrauen, weil ich es nicht darf.«
»Wie Ihr wollt«, gab Maerad zurück. Mit einem Mal kümmerte es sie nicht mehr. Sollte er ruhig seine Geheimnisse haben.
Er deutete südwärts. »Ich möchte vor Einbruch der Nacht einen Ort erreichen, den ich kenne«, klärte er sie auf. »Er bietet uns zwar keinen solchen Schutz wie Irihel, ist aber immer noch sicherer als das freie Gelände. Bis dorthin liegt eine Wegstunde oder mehr vor uns, und der Nachmittag ist bereits halb verstrichen. Deshalb beeile ich mich so.«
»Darf ich bitte einen Schluck Wasser haben, bevor wir weitergehen?«, fragte Maerad. Cadvan holte den Wasserbeutel aus seinem Bündel hervor, reichte ihn ihr und trank anschließend selbst. Danach setzten sie den Marsch fort.
Cadvan führte sie näher zu den Bergen, und kurz vor Anbruch der Nacht steuerte er auf etwas zu, das wie ein Dorn oder ein aufrechter Stein hoch auf einem kleinen, sonderbar rundlichen Hügel anmutete. Als sie sich dem Ort näherten, erkannte Maerad, dass es sich um eine Ruine handelte. Nicht einmal Moos wucherte auf den Steinen. Leere Schlitze bildeten die Fenster des verfallenen Gemäuers. Es wurde spät; die Sonne warf bereits die langen Schatten der Berge über sie, und Maerad spürte die Kühle frühen Taus. Mittlerweile herrschte ringsum völlige Stille, was ihr Furcht einflößte; sie hatte das Gefühl, dass ihre ungesehenen Jäger sich geduckt anpirschten und zum Angriff vorbereiteten. Vermutlich wäre ihr wohler ums Herz gewesen, wenn sie zumindest eine Vorstellung davon gehabt hätte, was sie verfolgte. Diese unsichtbare Bedrohung war zermürbend.
Als sie den Hügel erklommen, wobei sie Acht geben mussten, nicht auf dem glitschigen Gras auszurutschen, erkundigte sie sich, was die Ruine einst gewesen war. »Das war einmal ein Wachtturm«, antwortete Cadvan. »Sonst steht hier nichts mehr. Wir haben uns wacker geschlagen, dass wir es vor Einbruch der Nacht hierher geschafft haben.«
»Was hat er denn bewacht?«, bohrte Maerad nach.
»Eine große Stadt«, erwiderte Cadvan. »Ihr Name ist längst in Vergessenheit geraten. Vor der Großen Stille war dies ein wohlhabendes und bevölkerungsreiches Land. Der Namenlose hat selbst die Erinnerung an diesen Ort ausgelöscht. Stein für Stein ließ er sämtliche Paläste und Gärten abtragen - bis auf diesen Turm. Vielleicht war er ihm nützlich.«
Sie schritten unter einem dicken Granitsturz hindurch in die dachlose Ruine. Es war ein kleiner Turm gewesen, etwa vier mal vier Meter, und früher hatte eine Treppe zu einem höher gelegenen Beobachtungsstand geführt. Die aus mächtigen, ohne jeden Mörtel aneinander gefügten Steinen bestehenden Mauern ragten größtenteils noch hoch auf, wenngleich das Dach eingestürzt und sowohl die Treppen als auch die Böden verrottet waren. Oben an den Wänden, wo sich einst Kammern befunden hatten, waren noch die Male von Kaminen zu erkennen. Es gab nur einen Zugang, und die schmalen Fenster befanden sich in größerer Höhe. Cadvan ließ sein Bündel zu Boden plumpsen.
»Wir haben nur wenig Zeit, die wir klug nützen sollten, wenn wir die Nacht überleben wollen«, sagte er. »Feuer ist unsere
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