Die Pellinor Saga Bd. 1 - Die Gabe
Berg«, meinte Maerad mit einem Blick zurück zu seinem hohen, schneegekrönten Gipfel. »Ihr aber redet, als wäre er ein Mensch … und was ist die Jagd?«
»Der Landrost ist eine Macht, ja ein Wesen … der Berg stellt lediglich seine Behausung dar. Aber er ist kein Mensch und ist nie einer gewesen.«
»Wie der Namenlose?«, hakte Maerad nach.
»Nicht so mächtig wie er, wenngleich der Namenlose einst ein Mensch war. Der Landrost ist lediglich einer seiner Sklaven. Ich will seinen Namen hier nicht aussprechen, auch wenn ich ihn kenne.« Cadvan setzte ab, und Maerad fiel abermals die Erschöpfung in seinen Zügen auf - eine tief sitzende Müdigkeit, die von langer Pein herrührte. »Er nahm mich gefangen und hielt mich in seinem Bollwerk tief im Berg fest. Dort sah ich Dinge, die ich nicht hätte sehen sollen; denn in seinem Stolz wollte er meinen Geist brechen, bevor ich sterben sollte. Nun reut ihn, dass er mir dies alles zeigte. Denn ich konnte fliehen. Doch seine Rache ist tödlich, und wir befinden uns noch nicht außerhalb seiner Reichweite. Im Tal konnte ich ihn dank deiner Hilfe mit Müh und Not abwehren, andernfalls hätte er den Berg über uns einstürzen lassen. Seine Macht schwindet, je weiter wir uns von ihm entfernen, aber wir sind ihm nach wie vor zu nah.
Er findet sich nicht leicht damit ab, wenn jemand seinen Klauen entrinnt. Ich glaube, er hat die Werwesen ausgesandt, deshalb ist es so still. Ihre Schatten verfolgen uns, wenngleich sie nichts tun können, solange die Sonne scheint. Erst in der Dunkelheit können sie Gestalt annehmen. Das wird eine schlimme Nacht.«
Er schwieg eine Weile. Seine Worte schienen die Stille ringsum zu verstärken, und Maerad sah sich unbehaglich um. Die Landschaft wirkte friedlich und keineswegs bedrohlich, aber ein feinsinnigeres Gespür verriet ihr etwas anderes. Eine namenlose Furcht bescherte ihr eine Gänsehaut. »Maerad«, meldete Cadvan sich schließlich wieder zu Wort, »ich glaube, ich hätte dich lieber zurücklassen sollen, als dich in meine Gefahr hineinzuziehen. Als ich in Gilmans Feste über dich gestolpert bin, habe ich nicht ausreichend nachgedacht. Ich war zu erstaunt und erschöpft. Und jetzt ist es zu spät, um noch umzukehren.« »Nein«, widersprach Maerad heftig. Sie dachte zurück an die erdrückende Verzweiflung in Gilmans Feste. Hier und jetzt konnte sie wenigstens frei atmen. »Nein, es war gut, dass Ihr mich aufgefordert habt, mit Euch zu kommen. Ich würde lieber sterben, als dort zu verwelken.«
»Nun ja, du könntest tatsächlich sterben«, gab Cadvan zu bedenken.
»Dann sterbe ich zumindest nicht als Sklavin«, entgegnete Maerad. Stolze Worte, dachte sie; aber sie meinte sie ernst.
Cadvan beschleunigte seinen Schritt, und sie liefen schweigend nebeneinander einher. Jeder hing den eigenen Gedanken nach.
Maerad konnte immer noch nicht so recht glauben, dass sie der Feste entronnen war. Ab und an ertappte sie sich dabei zu denken, dass sie die eine oder andere Aufgabe zu erfüllen hatte - Unkraut jäten auf den Feldern, Buttern oder das Spinnen der rauen Wolle, aus der die gesamte Kleidung in der Feste hergestellt wurde. Dann stellte sie mit einem Hauch von Bestürzung fest, dass sie vielleicht nichts von alledem je wieder tun musste. Trotz des anschwellenden Gefühls, beobachtet zu werden, das ihr den Eindruck vermittelte, die Steine selbst spähten ihr hinterher, überwältigte sie der gegenwärtige Augenblick. Sie konnte sich nichts Erstaunlicheres als den bloßen Umstand ihrer Freiheit vorstellen. Wohin sie unterwegs war oder weshalb, waren Fragen, über die sie gar nicht nachdenken konnte. Und dieser Cadvan - wer war er wirklich? Warum hatte sie dieses eigenartige Gefühl, ihm vertrauen zu können? Sie wusste nichts über ihn. Maerad hatte noch nie einem Mann vertraut, abgesehen von Mirlad, und selbst bei ihm hatte es Jahre gedauert, jenes Vertrauen aufzubauen. Warum sollte sie nun damit anfangen?
Für die Mittagsmahlzeit hielten sie neben einem der zahlreichen Bächlein an, die von den Bergen herabflossen. Maerads Knöchel begann anzuschwellen. Behutsam schlüpfte sie aus dem Stiefel, schloss die Hände um den Fuß und massierte ihn.
»Tut es weh?«, fragte Cadvan. »Lass mich mal sehen.« Er nahm ihren Fuß in die Hände und drehte ihn behutsam herum. »Er ist ein wenig geschwollen. Nichts Schlimmes. Atme tief ein.« Er presste die Hand heftig auf den Knöchel; Maerad japste erst vor Schmerzen auf, dann erneut, weil
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