Die Pellinor Saga Bd. 1 - Die Gabe
Schule; das heißt, sofern es dein Zustand erlaubt. Jedenfalls siehst du heute Morgen rosig aus.«
Maerad verdrängte den Verdacht, dass Cadvan die Sache mit dem Rat verharmloste, um ihr die ärgste Scheu davor zu nehmen. Sie zog sich an, und nachdem sie gegessen hatten, zeigte er ihr die Schule. Dabei erzählte er ihr, dass alle älteren Schulen wie Inneil nach demselben Muster errichtet worden waren. Inneil war wie ein Rad angeordnet: Die Nabe stellte der Kreis von Lanorgrim dar, von dort aus erstreckten sich strahlenförmig große Straßen, verbunden durch ringförmige Pfade, die ihrerseits die Hauptstraßen bildeten. Den Kreis von Lanorgrim säumten die prächtigsten Bauwerke der Schule. Auf einer Seite befand sich die Große Halle, zu deren Linken eine riesige Bibliothek, in der Maerad Schreiber bei der Arbeit beobachten konnte, außerdem schwarz gewandete Bibliothekare mit ernsten Mienen, die Hüter der Bücher, die im Ort hohes Ansehen genossen. Rechts der Großen Halle stand das Haus der Musik, in dem die Lehrer wohnten und die älteren Kinder und fortgeschrittenen Musiker lernten. Gegenüber der Großen Halle ragte ein hohes Haus auf, das Cadvan ihr als Orons Heim bezeichnet hatte und das als Schauplatz für den Rat an jenem Nachmittag dienen würde.
Die ranghöheren Barden, deren Familien und Schüler wohnten in Häusern wie jenem Malgorns und Silvias nahe dem inneren Kreis.
Einschließlich der Schüler, so berichtete ihr Cadvan, lebten etwa zweihundert Barden in Inneil. »Die Anzahl der Barden unterscheidet sich von Schule zu Schule«, erläuterte er. »Und somit auch die Zahl derer, die ihre jeweiligen Zirkel bilden: An manchen Orten sind es sechs, an manchen neun. An einigen gibt es sogar zwei Zirkel, einen Inneren oder Ersten Zirkel und einen Äußeren oder Zweiten Zirkel. Hier in Inneil gibt es nur einen Zirkel aus sechs Barden.«
»Und was machen die anderen Barden?«, wollte Maerad neugierig wissen. »Sie alle verrichten die Arbeit der Schule«, antwortete Cadvan. »Sie unterrichten, sie schreiben, sie schaffen, sie singen, sie fördern… es gibt so viele Möglichkeiten, sich als Barde zu betätigen! Auch das ist von Schule zu Schule unterschiedlich, je nachdem, unter welchem Volk sie leben. Wie du vielleicht schon erraten hast, ist Inneil berühmt für seine Kräuterkunde und seine Küche, die man hierzulande ausgesprochen schätzt; aber natürlich spielt bei der Verwaltung des Gaus noch allerlei anderes mit. In ganz Annar und den Sieben Königreichen gibt es keine Schule, die einer anderen gleicht. Ich hoffe, mit der Zeit kannst du sie alle besuchen und dir selbst ein Bild von ihnen machen. Gemeinsam haben sie nur dies - zumindest sollte dem so sein: Sie bewahren das Gleichgewicht und dienen dem Licht.«
Inzwischen gingen sie auf den äußeren Rand der Schule zu, wo sich mehrere hundert Hallen und Häuser drängten. Hier lebten die zahlreichen Menschen, die keine Barden waren, aber sich ihren Lebensunterhalt durch die Schule verdienten oder in der Stadt Handel trieben. Auch Handwerker traf man hier an: Schmiede, Sattler, Holzschnitzer, Maurer und Goldschmiede. Sie besuchten riesige Stallungen, denn Barden reisten viel, und die meisten unterhielten zumindest ein Pferd. Maerad sog den Geruch mit einer jähen, überraschend wehmütigen Erinnerung an ihr früheres Leben ein: Trotz der Sklavenarbeit hatte es ihr Freude bereitet, die Tiere zu versorgen.
Inneil war voller Bäume; die Häuser standen in hübschen Gärten, und es gab zahlreiche beschauliche Plätze, bisweilen kaum größer als ein Zimmer. Man konnte um eine Ecke biegen und unerwartet auf einen Springbrunnen oder vielleicht eine Statue und eine Steinbank auf einem Fleckchen Wiese mit Gänseblümchen stoßen; oder auf einen uralten Sturz, gestaltet wie eine wunderschöne Frau, ein seltsamer Geist oder ein Pferd; oder auf das Bildnis von Lanorgrim, das aus einem Fenster bunten Glases zu springen schien, welches die Sonnenstrahlen rot, blau oder golden zurückwarf. Maerad schaute und schaute, als wären ihre Augen am Verhungern. Jede Straße offenbarte ein neues Wunder. Doch obschon Inneil geschäftig und wohlhabend wirkte, fiel ihr auf, dass viele Häuser geschlossene Fensterläden aufwiesen und leer standen.
»So geht es heute vielen Schulen«, erklärte Cadvan, als sie sich bei ihm nach dem Grund dafür erkundigte. »Es gibt immer weniger Barden. Inneil ist immer noch eine große Schule und bei den Talbewohnern sehr beliebt, dennoch
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