Die Pellinor Saga Bd. 1 - Die Gabe
ist auch dieser Ort nicht mehr, was er in seiner Blütezeit war. An einigen Orten sind die Barden selbst daran schuld: Sie sind hochmütig geworden, haben sich von den Menschen entfremdet, verachten diejenigen, unter denen sie leben, und kümmern sich nicht mehr um das Leben des Landes. Aber andernorts sind andere Kräfte am Werk, welche die Namen der Barden schwärzen und die Kunst des Bardentums in Verruf bringen, Lügen säen, um Argwohn zu pflanzen, wo einst Vertrauen herrschte, und Hass, wo einst Liebe war. Zu unser aller Verlust.«
Von der Schönheit dessen überwältigt, was sie sah, konnte Maerad sich nicht vorstellen, wie jemand die Lebensweise der Barden hassen konnte. »Es liegt wohl nur an der Unwissenheit darüber, was Barden tun«, meinte sie.
»Ja, oft ist das so«, pflichtete Cadvan ihr bei. »Daran und an Vergesslichkeit. Es ist schwieriger als du denkst, gegen solche Dinge anzugehen, noch dazu in solchen Zeiten, in denen Bosheit wuchert und sogar die Barden uneins sind. Aber das ist unser Los.«
Als Maerad an jenem Nachmittag den Ratssaal in Orons Haus betrat, zuckte sie zusammen, als wäre sie geschlagen worden; sie hatte das Gefühl, in ein blendend grelles Licht geschritten zu sein. Der Raum schien gleißend zu schimmern oder mit einer sonderbaren Musik zu summen, obwohl sie kein Licht sah und keinen Laut hörte. Ein tiefer verankertes Bewusstsein in ihrem Geist regte sich wachsam und spürte die Kraft, die sie umgab. Eine Kraft, als ob viele verschiedene Gedanken vergeblich in gegensätzliche Richtungen zu treiben versuchten.
Sie blinzelte und sah sich im Raum um.
Mindestens drei Dutzend Barden saßen mit ernsten Zügen um einen runden Holztisch in einem Saal karger Anmut, überdacht von einem Fächer geriefelten Steinwerks, das sich über ungeschmückte weiße Wände wölbte. Das einzige Anzeichen von Prunk bildete unter dem Tisch ein dicker, roter Teppich, in den stilisierte Bilder von Pferden eingewoben waren, die über weite Felder galoppierten. Der Tisch selbst schien uralt und aus dunklem, auf Hochglanz poliertem Holz geschnitzt zu sein. Darauf standen formschöne Glaskaraffen mit Wasser, Trinkkelche und ein riesiger Tafelaufsatz aus Silber in Form eines sich aufbäumenden Pferdes; sonst nichts. In einem Kamin an einer Wand brannte ein Feuer, das die Kühle des noch jungen Jahres vertrieb. Die Barden sahen aus, als hätten sie bereits eine Weile beratschlagt. Als Cadvan und sie eintraten, drehten sich alle am Tisch um und sahen sie an, und Oron stand auf. Maerads Magen verknotete sich vor innerer Unruhe. Nach Rückhalt suchend wandte sie sich Cadvan zu, doch er lächelte sie nur verbindlich an, weder freundlich, noch unfreundlich. Sie schluckte und ließ sich von ihm zu einem Stuhl mit hoher Rückenlehne führen. Wartend blieb sie dahinter stehen und hoffte, dass niemand bemerken würde, wie ihre Knie schlotterten.
»Willkommen zu diesem Rat, Cadvan von Lirigon und Maerad«, sprach Oron. Dann stellte sie die Leute rings um den Tisch vor, von denen Cadvan die meisten bereits zu kennen schien. Sie nickten, wenn ihre Namen aufgerufen wurden, schwiegen jedoch. Maerad versuchte, sie sich zu merken, aber es waren so viele, dass sie fast alle gleich wieder vergaß, wenngleich sie zu ihrer Rechten Silvia und Malgorn erblickte. Heigar saß in blauen Gewändern ein paar Sitze links von Maerad und schleuderte ihr einen Blick derart unverhohlener Böswilligkeit zu, dass Maerad völlig entgeistert war. Neben ihr befand sich ein Mann mit einer langen Nase, dessen Gesicht Maerad auf Anhieb nicht mochte. Saliman, der fast genau gegenüber saß, lächelte freundlich. Schließlich nahmen sie Platz, Oron hingegen blieb stehen.
»Aus Höflichkeit gegenüber Maerad, die der Bardensprache noch nicht mächtig ist, werden wir uns der Sprache von Annar bedienen«, verkündete Oron mit einem leichten Nicken zu Maerad. »Wir haben heute bereits zahlreiche Dinge erörtert«, fuhr sie fort. »Vielen davon kommt eine düstere, besorgniserregende Bedeutung bei; daher ist es angenehm, unsere Gedanken endlich etwas zuzuwenden, das man als gute Neuigkeiten betrachten könnte. Hier ist jemand, der behauptet, die Plünderung Pellinors überlebt zu haben, unseren ersten und vielleicht bislang schwerwiegendsten Verlust. Eine gewisse Maerad, die Tochter Milanas, an die sich vermutlich einige von euch erinnern.« Gemurmel wanderte um den Tisch. Einige musterten Maerad mit lebhaftem Interesse, andere mit unverhohlenem
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