Die Pellinor Saga Bd. 1 - Die Gabe
zu nehmen. Am Ehrentisch erhob sich eine große Frau mit einem schlichten, weißen Gewand. Stille senkte sich über den Saal. Von ihrem strengen Antlitz war eisengraues Haar zurückgebunden, und in der rechten Hand hielt sie einen langen Stab, mit dem sie drei Mal auf den Boden stampfte. »Das ist Oron, die oberste Bardin des Zirkels«, flüsterte Cadvan Maerad ins Ohr.
»Willkommen und dreimal willkommen«, sprach sie mit einer Stimme, die mühelos durch die gesamte Halle drang. »Auf jene, die uns lieb und teuer sind, auf Fremde, auf jene, die zurückkehren, und auf jene, die diese Halle zum ersten Mal betreten, trinke ich den Willkommensbecher!«
Sie hob einen silbernen Kelch empor, und alle standen auf, um ihre Becher ebenfalls zu erheben. Maerad tat es ihnen hastig gleich.
»Lasst uns auf Verbundenheit trinken. Möge das Licht uns alle segnen, ob Freunde, ob Fremde, und möge es unsere Worte rein, unsere Herzen reiner und unsere Taten am reinsten sein lassen.«
»Möge das Licht uns segnen!«, erwiderten die Barden wie mit einer Stimme, ehe sie alle aus ihren Bechern tranken.
Oron pochte drei weitere Male mit dem Stab, dann setzte sie sich. Damit schienen die Förmlichkeiten vorüber zu sein. Die Unterhaltungen setzten wieder ein, schwollen laut an, und die Anwesenden griffen nach Obst und Brot. Cadvan und Saliman waren in ein Gespräch über den Stand der Dinge im Süden vertieft, und Maerad wollte sie nicht unterbrechen.
»Bist du Maerad von Pellinor?«
»Ja.« Maerad drehte sich zur Seite und sah sich einer kleinen, dunkelhaarigen Frau mit blauen Augen gegenüber.
»Das dachte ich mir schon, als du mit Cadvan hereingekommen bist«, sagte die Frau. »Ich bin Heigar und aus Ettinor zum Konklave hergereist. Verzeih meine Dreistigkeit; ich habe von Silvia von deinen Abenteuern erfahren. Ich muss sagen, du siehst nicht aus, als seist du über die Berge geklettert.«
»Das ist Silvia zu verdanken«, erwiderte Maerad. »Wo liegt Ettinor?« »Etwas über einen Wochenritt westlich«, antwortete Heigar. »Ich bin gekommen, um neue Kunde zu überbringen und um Rat zu fragen; wie die meisten hier, vermute ich. Wir leben in schwierigen Zeiten. Dieser Tage scheinen alle Neuigkeiten schlechte Neuigkeiten zu sein.«
»Ja«, pflichtete Maerad ihr bei. Wieder spürte sie schmerzlich ihren Mangel an Wissen; sie war so abgeschnitten von der Welt gewesen, dass sie von gar nichts eine Ahnung hatte. »Welche Kunde bringt Ihr denn?« »Das wirst du beim Rat hören«, wich Heigar der Frage aus. »Aber erzähl mir doch von dir. Das erscheint mir viel aufregender.«
»Oh, das glaube ich kaum«, meinte Maerad. »Warum sind alle so neugierig auf mich? Ich weiß doch gar nichts. Ich habe keine Ahnung von Konklaves. Was machen Barden dabei eigentlich?«
Heigar zuckte mit den Schultern. »Hauptsächlich reden wir.«
»Ja, aber worüber?«
»Uber Belange des Lichts. Über Dinge, die das Gleichgewicht beeinträchtigen. Über Angelegenheiten, die sich auf die Schulen auswirken. Solche Sachen.« »Und was ist das Gleichgewicht?« Allmählich verlor Maerad ein wenig die Geduld mit Heigar, deren Augen, wie sie bemerkte, ständig über ihre Schulter blickten, so als hörte sie ihr nur halb zu. Sie gebarte sich auf eine andere Weise als Cadvan ausweichend, und etwas in Maerad knisterte vor Argwohn, wenngleich sie nicht zu sagen vermochte, weshalb.
Heigar nahm Maerad in ein regelrechtes Kreuzverhör, doch Maerad antwortete vorsichtig, gab so wenig wie möglich über sich selbst und gar nichts über Cadvan preis. Ihr war aufgefallen, dass Cadvan flüchtig ihre Gesprächspartnerin in Augenschein genommen hatte, bevor er sich wieder seiner Unterhaltung mit Saliman zuwandte. Trotzdem verlief das Abendessen durchaus angenehm. Schließlich, als Maerad fand, sie konnte nichts mehr essen und wenn es um ihr Leben ginge, wurden die Teller abgeräumt. Dann stand Cadvan zu ihrer Überraschung auf und begab sich unter Beifall zum Podium.
»Cadvan gilt als großartiger Sänger«, klärte Heigar sie auf. »Obwohl ich ihn selbst noch nie gehört habe. Dennoch überrascht es mich, dass er als Erster singt.« Doch Cadvan sprach stattdessen.
»Mit Eurem Einverständnis singe ich heute Abend eine Ballade aus uralten Tagen, aus den ersten Jahren des verlorenen Königreichs Lirion, als der Eishexer die Welt noch heimsuchte: Mercans Queste.« Damit schlug er einen Akkord an und begann zu singen.
»Eine seltsame Wahl«, flüsterte Heigar, als Cadvan
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