Die Pellinor Saga Bd. 1 - Die Gabe
oder dass gar jemand unseren Weg kreuzt«, hielt Cadvan dem entgegen. Er wirkte fröhlicher als seit Tagen. »Mit ein bisschen Glück wird wenigstens ein paar Tage lang niemand wissen, ob wir noch hier sind oder nicht.«
»Möglich«, räumte Maerad ein. »Obwohl mir nicht klar ist, was das für einen Unterschied macht.«
»Vielleicht gar keinen. Vielleicht einen gewaltigen.« Rastlos lief er im Zimmer auf und ab. »Wir sollten nach unseren Pferde sehen«, schlug er vor. »Und wolltest du heute nicht noch einmal bei Dernhil vorbeischauen? Wir können gleich beides zusammen erledigen.«
Sie schlüpften in schwere Mäntel und bahnten sich den Weg zu den Stallungen. Imi wieherte zum Gruß, als sie Maerad und Cadvan erblickte, und Maerads Stimmung besserte sich ein wenig. Sie hatte ihre Stute bereits ins Herz geschlossen. Cadvans Pferd war ein großer, schwarzer Hengst namens Darsor. Maerad hatte noch nie ein so stolzes und mächtiges Tier gesehen. »Auf meinen Ruf hin ist er gestern aus dem Süden von Annar eingetroffen«, erklärte Cadvan. »Er entstammt derselben Rasse wie Lanorgrim. Er ist damit einverstanden, mir als Reittier zu dienen; ich befehlige ihn nicht. Er ist mein Freund.«
»Er sieht aus, als lechzte er nach Ertüchtigung, nicht, als hätte er eben erst eine lange Reise hinter sich«, wunderte Maerad sich. »Was soll das heißen, Ihr habt ihn gerufen?«
»Ein Freund hört immer«, gab Cadvan geheimnisvoll zurück. »Und das ist Imi? Indik hat eine gute Wahl getroffen; sie scheint tadellos zu dir zu passen.« Er richtete ein paar Worte in der Hohen Sprache an die Stute, woraufhin sie schnaubte und mit dem Huf über den Boden schabte. Er lachte.
»Eine stolze und eigenwillige Stute, genau wie ihre Reiterin«, schmunzelte er und drehte sich Maerad zu. »Sie lässt sich selbst von Darsor, einem Fürsten unter den Pferden, nicht einschüchtern. Ich wollte von ihr wissen, ob sie denkt, mit uns mithalten zu können, und sie ist beleidigt, weil ich so etwas überhaupt zu fragen wage.« Er tätschelte Imis Hals.
Nachdem sie die Ställe verlassen hatten, vereinbarten sie, sich zum Fest im Musikzimmer in Malgorns und Silvias Haus zu treffen. Anschließend begab Cadvan sich zum Musikhaus. Maerad lenkte die Schritte indes zum letzten Mal zur Bibliothek, um Dernhil aufzusuchen.
Wie immer hielt Dernhil sich in seiner Kammer auf. Maerad hegte bisweilen den Verdacht, dass er dort sogar schlief; sie stellte sich vor, wie er über den Büchern einnickte, während das Feuer im Kamin herunterbrannte und ihm der Federhalter aus der schlaffen Hand glitt. Er schaute auf, als sie eintrat. »Maerad! Ich bin froh, dass du gekommen bist. Setz dich.«
Maerad zog sich ihren üblichen Stuhl heran, verfrachtete die bereits darauf abgelegten Bücher auf den Boden und nahm neben Dernhil Platz. Er kramte auf seinem Schreibtisch nach etwas.
»Ich habe da etwas, von dem ich dachte, ich sollte es dir geben«, erklärte er. »Es ist hier irgendwo … ah ja, hier.« Er zog ein Stück Pergament aus einem Stapel Bücher hervor und glättete es auf dem Tisch. Es sah sehr alt aus, wirkte vor Verschleiß beinahe durchscheinend, und die Tinte war an einigen Stellen fast bis zur Unkenntlichkeit verblasst. Einige der Buchstaben erkannte Maerad zwar, doch der Text war in einer sonderbaren Handschrift verfasst, und sie konnte keines der Worte entziffern.
»Ich bin unlängst darauf gestoßen, als ich eigentlich nach etwas anderem suchte«, erklärte Dernhil. »Es befand sich zwischen Papieren und Resten, denen außer mir wohl niemand besondere Bedeutung beimessen würde, lauter alte Balladen und Listen und dergleichen. Ich glaube kaum, dass es jemand vermissen wird, und dir könnte es vielleicht nützlich sein. Außerdem halte ich es für besser, wenn es aus der Bibliothek verschwindet, wo die falschen Augen es sehen könnten.«
»Was heißt das?«, fragte Maerad.
»Tut mir leid, ich hatte vergessen, dass du es noch nicht ganz lesen kannst«, sagte Dernhil. »Es ist ein eigenartiges Dokument, verfasst in der Sprache der Mittleren Jahre, etwa dreihundert Jahre, nachdem Maninae das Königreich Annar wiederhergestellt hatte. Auf den ersten Blick nimmt es sich wie blanker Unfug aus, aber ich bin mir nicht sicher…«
»Könnt Ihr es mir vorlesen?« Dernhil musterte Maerad belustigt. Wie sie dort auf dem Stuhlrand kauerte, die Beine vor Ungeduld zappelnd, wirkte sie wie ein zehnjähriges Kind.
»Na schön. Es heißt in etwa: Ich, Lanorgil von
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