Die Pellinor Saga Bd. 1 - Die Gabe
Pellinor, halte hiermit meinen Traum fest, auf dass die Nachwelt davon wisse, wenn ich einst durch die Tore in den Offenen Kreis geschritten bin. Lanorgil war zu seiner Zeit als Seher berühmt, weshalb mir der Text überhaupt erst aufgefallen ist. Es ist seltsam, dass ich darüber gestolpert bin, zumal die Bibliothek von Inneil zu Recht für ihre Ausmaße berühmt ist und niemand, der noch am Leben ist, je alles darin gelesen hat.«
Maerad rutschte ungeduldig auf dem Stuhl hin und her.
»Wie auch immer, so geht es weiter: Ein Nebel verhüllt den klaren Fluss, ein Nebel, den niemandes Auge zu fassen vermag, ein Nebel, der die Tapferen verwirrt und die … ich glaube … die Kleinmütigen niederschmettert und vor Furcht erzittern lässt.« Mit einem jähen Anflug von Angst dachte Maerad an ihren eigenen Traum zurück. »Finsternis und Verzweiflung herrscht allerorts: Fäulnis bedrängt die Herrschaftssitze von Annar, und jene, die dem Licht wahrhaftig folgen, werden in Schatten geschleudert. Haltet Ausschau nach einer, die der Sprache ungewahr aus den Bergen kommt: einer Bardin, ungeschult und doch von dieser Schule. Suchet und behütet die Feuerlilie, die vom Schicksal Ausersehene, die an finsteren Orten umso strahlender erblüht und lange in Dunkelheit geschlafen hat; aus einer solchen Wurzel wird die Weife Flamme neu ersprießen, wenn ihre Saat im Herzen vergiftet scheint. Nehmet die Zeichen wahr und seid nicht blind! Im Namen des Lichts und zugunsten der Sprache, deren Ursprünge im Baumlied liegen, das alles nährt. So sprachen die Stimmen des Traumes von Lanorgil an diesem Dhortag, dem Siebten des Monats Luminil im Jahr 316 des Kalenders von Annaren.
Damit wäre das Dokument rund sechshundert Jahre alt.« Dernhil sah Maerad an. »Es scheint Unsinn zu sein. Eine, die der Sprache ungewahr aus den Bergen kommt, ungeschult und doch von dieser Schule. « Seine Augen ruhten auf Maerads Brosche. »Eine eigenartige Wortwahl: die Feuerlilie. Offensichtlich nimmt er damit auf Pellinor Bezug, obwohl man Pellinor in der Regel mit einer anderen Lilienart in Verbindung bringt, dem Aronkelch …« Seine Stimme verlor sich. Offenbar verfolgte er einen Gedanken, und Maerad wartete geduldig. »Du scheinst in dieses Rätsel zu passen«, meinte er und schaute auf. »Das würde auch Cadvans Verhalten erklären… er ist in uralten Überlieferungen sehr bewandert und weiß vieles, das vergessen wurde.« »Ich … ich weiß es nicht«, stammelte Maerad. »Mir gegenüber hat er nicht viel darüber gesagt.«
Dernhil wirkte leicht enttäuscht. »Naja, vielleicht gibst du ihm einfach dieses Schriftstück«, schlug er vor. »Zweifellos war es kein Zufall, dass ich es ausgerechnet jetzt gefunden habe; es heißt, das Licht rege sich, wenn es nötig ist. Mich hat der Text an all die Lieder über die vom Schicksal Ausersehene erinnert. Sie werden zwar nicht mehr gesungen, aber nichtjeder hat sie deshalb vergessen.«
»Die vom Schicksal Ausersehene?« Der kleine Knoten der Furcht in Maerads Brust weitete sich aus. Plötzlich wünschte sie, Dernhil hätte das Pergament nicht gefunden, und sie verspürte den jähen Drang, es zu zerreißen. »Was bedeutet das? Oder vielmehr, was kann das mit mir zu tun haben?«
»Das ist schwierig zu sagen«, meinte Dernhil und musterte sie unangenehm eindringlich. »Sprich jedenfalls mit niemandem darüber außer Cadvan. Ich denke, allmählich beginne ich ein wenig zu verstehen.« Seine Miene wirkte besorgt. »Mir graut bei der Vorstellung, dass du so jung und ungeschult über weites, gefährliches Land reisen musst«, fuhr er fort. »Aber es könnte sein, dass du nirgends sicher wärst und nirgends weniger als hier, wo einige erahnen könnten, dass du mehr als ein Quell für belanglosen Klatsch bist. Möge das Licht dich beschützen!«
Eine kurze, etwas betretene Pause entstand. Maerad wusste nicht, was sie sagen sollte. Aus Gründen, die sie nicht verstand, schien Dernhil bekümmert zu sein. Sie ergriff seine Hand.
»Ich glaube, bei Cadvan werde ich sicherer sein als bei jedem anderen«, sagte sie leise.
Dernhil schlang beide Hände um ihre Hand und drückte sie. »Das glaube ich auch«, pflichtete er ihr bei. »Trotzdem wünschte ich, die Dinge wären anders, sodass du hierbleiben könntest, geliebt, wie du es werden solltest.« Damit küsste er ihre Hand, dann, urplötzlich, zog er sie in seine Arme und küsste sie auf den Mund. In Maerads Kopf brüllte eine Stimme Nein!, doch sie brachte keinen
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