Die Pellinor Saga Bd. 1 - Die Gabe
vermittelte ein völlig anderes Gewicht, als spräche sie von etwas erheblich Schicksalhafterem, Bedeutungsvolleren als Schwertkunst. Maerad beschlich bei Orons Worten ein ungutes Gefühl, eine dunkle Vorahnung, und sie schauderte. »Ich hoffe es«, gab sie nüchtern zurück. »Ich habe noch viel zu lernen.«
»Das haben wir alle«, entgegnete Oron leichthin. Dann zog sie eine Silberbrosche in Form des Lilienzeichens von Pellinor hervor und heftete sie der überraschten Maerad an die Brust. »Trag sie mit Stolz! Dieses Stück hat meinem alten Freund Icarim von Pellinor gehört, einem großen Barden. Ich denke, er wäre froh, wüsste er, wer es nun trägt.« Dann wandte Oron sich an Cadvan und sprach: »Cadvan, ich brauche dir ja nicht zu sagen, dass du diese junge Frau beschützen musst. Sie ist deines Lebens mehr als würdig. Dein Pfad ist dunkel und ungewiss, doch das war schon immer so. Sei vorsichtig, alter Freund, das ist alles, was ich dir sagen kann.«
»Ich bin daran gewöhnt, vorsichtig zu sein«, erwiderte Cadvan. »Aber mein Herz lässt mich zweifeln. Ich denke, unsere nächste Begegnung wird jenseits der Tore der Nimmerwiederkehr stattfinden, Oron von Inneil.«
Kurz begegnete Oron seinem Blick, dann neigte sie das Haupt. »Wenn dem so sein sollte, dann hatte ich ein langes und gutes Leben«, sagte sie. »Ich fürchte nicht mehr um mich selbst. Meine Hoffnungen und Befürchtungen begleiten dich und deine Aufgabe.«
Damit legte sie ihm die Hände auf die Schultern und küsste ihn auf die Stirn. Einen Augenblick verharrten sie reglos, und Maerad hatte den Eindruck, sie stünden außerhalb der Zeit wie zwei Gestalten in einer über viele Jahrhunderte erzählten Geschichte: zwei edle Barden des Weistums, die in den Annalen des Landes hoch gewürdigt wurden. Doch der Augenblick verstrich, und nach einem Blinzeln sah Maerad nur noch einen Mann und eine Frau, die in einem Zimmer standen, in dem das Feuer auf die bloße Glut heruntergebrannt war. Oron nickte den übrigen Barden zu und zog rasch von dannen.
Silvia wirkte bleich. »Ich weiß nicht, was du gesehen hast, Cadvan«, sagte sie. »Oron wäre ein schwerer Verlust für uns alle.«
»Bevor das Ende naht, dürfte es noch viele Verluste geben«, entgegnete Cadvan gedämpft. »Und niemand vermag zu sagen, wie dieses Ende aussehen wird.« Danach war niemandem mehr danach zumute, noch länger zu bleiben. Kurz darauf wünschten Maerad und Cadvan dem Rest der Gesellschaft eine gute Nacht und gingen.
»Erstaunlich, dass Silvia ihre Tochter erwähnt hat«, meinte Cadvan, während er mit Maerad den Flur entlanglief. »Sie spricht sonst nie über sie. Du hast alten Gram wachgerüttelt, Maerad.«
»Das wollte ich nicht«, beteuerte Maerad traurig. Sie dachte an ihre Mutter. Bliebe sie in Inneil, könnte sie vielleicht ein wenig jenes schmerzlichen Verlustes wettmachen. Allmählich begann sie Silvias verworrenes Sehnen ansatzweise zu begreifen. »Es ist nicht deine Schuld«, beschwichtigte Cadvan. »Manchmal erweist sich ein neues Leben als schmerzvoll: Die erwachenden Glieder brennen. Ich glaube eher, dass es gut so ist, womöglich für euch beide.«
Maerad fühlte sich durch seine Worte eigenartig getröstet. An ihrer Tür verabschiedeten sie sich voneinander. In ihrer Kammer kroch sie mit dem Buch ins Bett, das Dernhil ihr geschenkt hatte. Sie brauchte eine ganze Weile, um den Titel des Gedichts zu entziffern, das sie zu lesen versuchte. Es hieß: Für Clavila. Mit einem Mal wurde sie zu traurig, um sich mit Buchstaben herumzuschlagen. Behutsam legte sie das Buch auf eine Ablage. Sie würde es morgen Abend lesen. Vor dem Mittagessen am nächsten Tag traf Cadvan Maerad trübsinnig auf ihrem Bett sitzend an. Sie hatte den Geräuschen der Schule gelauscht: dem fernen Stimmen von Instrumenten, den Rufen der Schüler und Barden andernorts im Haus, dem Prasseln des Regens. Heute erschien der Gedanke, Inneil zu verlassen, um sich auf eine ungewisse, unbehagliche Reise zu begeben, noch dazu aus Gründen, die sie nicht völlig verstand, wesentlich weniger aufregend als zuvor.
»Regen!«, rief Cadvan aus und trat ans Fenster. »Hoffen wir, dass er nicht nachlässt. Mir scheint«, fügte er hinzu und spähte mit verkniffenen Augen durch die beschlagenen Scheiben, »das könnte ein Dauerregen werden.«
»Wohl kaum das beste Wetter zum Reiten«, meinte Maerad ein wenig trotzig. »Umso geringer ist die Gefahr, dass jemand denkt, wir könnten heute Nacht aufbrechen,
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