Die Pellinor Saga Bd. 1 - Die Gabe
Mucks hervor. Den Bruchteil eines Lidschlags verging sie regelrecht vor Grauen: Eine Erinnerung stürmte auf sie ein - heißer Atem auf ihrer Haut, grobe Hände, die ihren Leib misshandelten, das derbe Keuchen eines erregten Mannes … Wie eine Schlange entwand sie sich seinen Armen, schlug wild mit den Fäusten um sich und blieb nach Luft ringend vor ihm stehen, die Hände zum Fluch erhoben, die Augen funkelnd. Sie sah, dass der Mund des Mannes blutete. Erst da kam sie zur Besinnung: Dies war Dernhil, nicht Burk, jener Grobian, der versucht hatte, sie in Gilmans Feste zu schänden; und Dernhil hatte sie nur geküsst. Vor Scham und Verwirrung sprachlos ließ sie die Arme sinken und wandte sich ab. Dernhil bedeckte mit der Hand die Augen.
»Es tut mir leid«, flüsterte Maerad. Ihr wurde bewusst, dass sie heftig zitterte. Dernhil rührte sich und schaute auf.
»Nicht dir sollte es leid tun, Maerad«, sagte er. Zu ihrem Unbehagen schimmerten Tränen in seinen Augen. »Ich schäme mich; ich fürchte, ich habe mich vergessen. Manchmal ist es schwierig, sich daran zu erinnern, dass du noch so jung bist und dein Leben bisher so grausam verlaufen ist. Vielleicht begegnen wir uns wieder, und vielleicht verstehst du bis dahin die Wege des Herzens. Du solltest jetzt gehen. Vergiss das Pergament nicht! Möge das Licht deinen Pfad immerdar erhellen!« »Und den Euren ebenso«, murmelte Maerad hastig und ergriff das Pergament vom Tisch, an dem Dernhil regungslos saß, die Augen hinter der Hand verborgen. Mit pochendem Herzen und flinken Schritten verließ sie die Kammer, ohne noch einmal zurückzublicken.
Maerad rannte durch den Regen, der mittlerweile in einen steten Dauerguss übergegangen war. Sie nahm ihn kaum wahr. Cadvan hatte sie zwar wegen Dernhils Zuneigung zu ihr gehänselt, doch sie hatte ihm nicht geglaubt. Hatte sie vielleicht etwas falsch gemacht? Oder etwas Irreführendes gesagt?
In ihrer Kammer warf sie sich aufs Bett. Eine jeder Vernunft widersprechende Panik erfüllte sie. In Gilmans Feste hatte sie einen Großteil ihrer Zeit damit verbracht, sich den Annäherungsversuchen von Gilmans Grobianen und der männlichen Sklaven zu entziehen; Vergewaltigung hatte dort auf der Tagesordnung gestanden. Sie selbst hatte ein solches Los nur durch äußerste Arglist und Vorsicht vermieden und aufgrund der Wirkung ihrer Flüche. Es hatte zwar einen furchterregenden Zwischenfall mit Burk gegeben - die Erinnerung daran ließ sie nach wie vor erschaudern -, aber danach hatte es niemand mehr versucht. Burk war danach drei Tage lang blind gewesen und hatte wochenlang Furunkel gehabt, und niemand hatte gewagt, Maerad zu bestrafen … Der einzige Mann, dem sie in Gilmans Feste vertraut hatte, war Mirlad gewesen, und selbst ihm gegenüber war sie stets auf der Hut gewesen; ansonsten hatte sie die Aufmerksamkeit jeden Mannes, so unscheinbar sie auch gewesen sein mochte, als etwas empfunden, das es zu fürchten und zu vermeiden galt.
Maerad wusste, dass Dernhil jenen Männern in keinerlei Hinsicht ähnelte, dennoch konnte sie sich nicht beruhigen. Sie holte das Pergament hervor, das er ihr gegeben hatte, und betrachtete es eingehend. Die Schrift war so gebrochen, so sonderbar, und sie steckte voller Worte, die sie nicht entschlüsseln konnte. Maerad war außerstande, dem Dokument einen Sinn zu entlocken. Sie schob es unter ihr Kissen, legte sich hin und starrte an die Decke. Ihre Gefühle wegen Dernhil waren mit der seltsamen Angst vermengt, die das Pergament in ihr wachgerüttelt hatte.
Etwa eine Stunde später klopfte Silvia an die Tür und erkundigte sich, ob sie beim Ankleiden für das Fest an jenem Abend Hilfe brauchte. »Geht es dir gut, Maerad?«, fragte sie gleich darauf voll Sorge.
»Alles in Ordnung«, antwortete Maerad und schaute mit kläglichem Blick zu ihr auf. »Was ist geschehen? Hat jemand etwas gesagt? Oder bist du wegen der bevorstehenden Abreise besorgt?«
Silvia brauchte nicht lange, um Maerad eine Schilderung ihrer Begegnung mit Dernhil zu entlocken. Maerad berichtete ihr stockend davon, fast gelähmt vor Scham. Das Pergament erwähnte sie nicht, zumal Dernhil sie aufgefordert hatte, es vor allen anderen außer Cadvan geheim zu halten. Während Silvia sich das Gehörte durch den Kopf gehen ließ, entstand eine lange Pause.
»Schau, Maerad, zwischen Barden sind einige Dinge nicht ganz so wie unter den meisten anderen Menschen«, begann sie. »Das liegt teils daran, dass wir so lange leben …« Sie setzte
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