Die Pellinor Saga Bd. 2 - Das Rätsel
nicht war. Hem gehörte so sehr hierher, wie sie spürte, dass sie zu den Barden gehörte. Oder gespürt hatte, früher, bevor… Die schmerzvolle Vorstellung, dass sie durch ihre Taten für immer von den Schulen verbannt werden könnte, ließ sie zusammenzucken.
Eine Weile lag sie auf dem Bett und starrte blicklos an die Decke. Bald vermutlich schon am nächsten Tag - würde sie einen weiteren Abschnitt ihrer Suche beginnen. Sie wusste nichts über den Ort, an den sie reiste, und es bestand durchaus die Möglichkeit, dass sie nie zurückkehren würde. Und dann würde Hem nie von seiner Familie in Murask erfahren…
Maerad fiel der entsetzliche Zukunftstraum über die Plünderung von Turbansk ein, und sie spürte, wie Verzweiflung ihr aufstieg und sie zu ersticken drohte. Welche Hoffnung gab es für Hem oder sie, ihre jeweiligen Gefahren zu überleben? Wie konnte sie wissen, ob Hem nicht bereits tot war? Und dennoch war Maerad mit einem unerschütterlichen Empfinden, das tiefer reichte als ihre Zweifel, überzeugt davon, dass Hem noch lebte. Es war, als verbände sie beide ein unsichtbarer Faden, unendlich fein und zart. Nein, sie hätte es gespürt, wenn Hem gestorben wäre. Also lebte er noch; sie musste es einfach glauben. Und solange ein Herz schlägt, besteht Hoffnung, dachte sie entschlossen bei sich. Sie durfte nicht zulassen, dass Furcht oder Hoffnungslosigkeit ihr Tun bestimmten; so drohte sicheres Versagen.
Unversehens gelangte Maerad zu einer Entscheidung. Sie stand vom Bett auf und durchwühlte ihr Bündel auf der Suche nach dem Schreibzeug, das sie sorgsam in Öltuch eingewickelt darin aufbewahrte. Behutsam breitete sie das kostbare Papier auf der Truhe aus, griff zur Feder, tauchte sie in schwarze Tinte und hielt kurz inne, um zu überlegen, wie sie anfangen sollte. Dann schrieb sie mit verkrampfter Emsigkeit drauflos.
Mein lieber Bruder, begann sie.
Ich verfasse diesen Brief in Murask, einer Pilanel-Siedlung in Zmarkan. Ich hoffe, dass es dir gut geht und dass dir Saliman (sei gegrüßt, Saliman!) genug beigebracht hat, damit du diese Zeilen alleine lesen kannst. Leider habe ich schlechte Neuigkeiten: Cadvan, unser teurer Freund, ist auf unserer Reise hierher am Gwalhain-Pass zusammen mit Darsor und Imi ums Leben gekommen. Es gibt keine Worte, um meinen Kummer auszudrücken.
Ich habe Murask auf eigene Faust erreicht und stehe nun kurz davor, mit einem Pilanel-Führer weiterzureisen, um ein Volk zu finden, das man die Altweisen nennt und das in der Lage sein könnte, mir etwas über das Baumlied zu erzählen. Ich hoffe, dass ich recht habe und dies kein Fehler ist. Unter Umständen kehre ich nicht zurück, und es gibt einige Dinge, die du wissen sollst, falls ich dir nicht mehr persönlich davon erzählen kann.
Ich habe hier die Familie unseres Vaters entdeckt. Mein Führer heißt Dharin ä Lobvar und ist unser Vetter: der Sohn der Schwester unseres Vaters. Seine Mutter, die derzeit nicht in Murask weilt, konnte ich nicht kennen lernen, dafür das Oberhaupt der Klans, Sirkana ä Triberi, eine weitere von Doms Schwestern. Sie ist eine Bardin wie wir und Doms Zwillingsschwester. Ich bin ganz sicher, kämst du nach Murask, du würdest dich wie zu Hause fühlen; du weißt bereits, dass du ein Pilani bist, und zwar auf eine Weise, wie ich es trotz unserer Verwandtschaft niemals sein werde. Die Barden unter den Pilanel kennen andere Wege, ihre Gabe zu nützen, als an einer Schule eingeführt zu werden. Falls die Schulen von Turbansk dir nicht behagen, findest du viel leicht bei ihnen einen Platz. Aber unabhängig davon, ob du ein Turbansk-Barde wirst oder nicht, ich glaube, du musst eines Tages nach Murask reisen, um hier mit deinen Angehörigen zu sprechen.
Ich schreibe dies voll entsetzlicher Traurigkeit. Du fehlst mir mehr, als ich es zu beschreiben vermag, und jeden Tag wünschte ich, wir wären zusammen, nicht durch so viele Meilen getrennt. Ich habe gehört, dass ein Krieg auf Turbansk zurollt, und ich fürchte um dich. Wir sind in so dunklen Zeiten geboren. Aber ich schreibe dies auch mit Hoffnung und Liebe, bis ich dich, mein lieber Bruder, eines Tages wieder umarmen kann.
Deine Schwester
Maerad
Nachdem sie fertig war, las sie den Brief durch. Eigentlich drückte er nicht wirklich aus, was sie sagen wollte; ihr fehlten die Worte für so viele Dinge, zudem empfand sie das Schreiben an sich nach wie vor als Schwerstarbeit. Aber zumindest würde Hem so von seinen Angehörigen erfahren,
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