Die Pellinor Saga Bd. 2 - Das Rätsel
sein könnte.«
Beide Barden starrten Maerad mit ernsten Mienen an, bis sie sich unter den plötzlich finster wirkenden Blicken wand. Als Nerili ihr Unbehagen erkannte, füllte sie ihr Glas auf und wandte sich in dringlichem Tonfall an Cadvan. »Und was ist mit Nelac?«, fragte sie. »Ist er noch in Norloch? Oder ist er ebenfalls geflohen?«
»Nelac.« Bei der Erwähnung seines alten Lehrmeisters Nelac von Lirigon schlich sich Traurigkeit in Cadvans Stimme. »Nelac wollte nicht mitkommen. Ich habe ihn dazu aufgefordert, aber er meinte, er wäre dafür zu alt und würde in Norloch gebraucht. Ich … ich hege keinen Zweifel daran, dass er in großer Gefahr schwebt, und ich weiß nicht, was sich in Norloch zugetragen hat, nachdem wir aufgebrochen waren. Ich fürchte um ihn.«
»Er ist ein mächtiger Barde«, gab Nerili zu bedenken. »Es ist nicht einfach, ihn in Gefahr zu bringen.«
»Ja. Aber wir wissen nicht, was mit Enkir geschehen ist. Offenbar greift er nicht nur auf seine eigenen Kräfte zurück. Wie sonst hätte er eine Kreatur wie diesen Ondril heraufzubeschwören vermocht? Und Nelac ist alt, selbst für einen Barden. Er fürchtet sich nicht vor dem Tod. Vermutlich…« Cadvan seufzte und blickte in den Garten hinaus. »Vermutlich werde ich ihn nicht wiedersehen.«
»Eure Neuigkeiten sind durch und durch übel«, meinte Nerili. Kurze Stille trat ein. »Nun denn, es gibt viel zu besprechen. Ich bin sicher, ihr seid beide hungrig; wir können uns während des Essens unterhalten.« Sie bedachte Cadvan mit einem seltsam eindringlichen Blick, und Cadvan wandte sich mit beunruhigter Miene ab. Plötzlich wurde Maerad klar, dass Cadvan und Nerili einander kannten und dass Cadvans Verlegenheit nichts mit Unvertrautheit zu tun hatte. Cadvan nannte sie Neri, nicht Nerili. Völlig unerwartet überkam Maerad ein Anflug von Eifersucht; linkisch stand sie auf, um den beiden älteren Barden zum Esstisch zu folgen, wobei sie beinahe ihr Glas umstieß.
Beim Abendessen berichteten Cadvan und Maerad, wie Cadvan zu Beginn jenes Frühlings Maerad zur Flucht aus der Sklaverei in Gilmans Feste verholfen hatte, wie in ihm die Vermutung gereift war, dass sie die Ausersehene sei, der vorhergesagt war, den Fall des Namenlosen herbeizuführen, und wie ihre Einführung als Bardin in Norloch seine Ahnung bestätigt hatte.
»Und was jetzt?«, fragte Nerili, wobei sie ihn abermals mit jener eigenartigen Unmittelbarkeit ansah. »Denn ich kann mir nicht vorstellen, dass Cadvan von Lirigon lange in Busk bleiben wird.«
»Sofern ich die Zeichen richtig deute, sagen sie, dass wir uns nach Norden wenden müssen«, gab Cadvan zurück. »Wie es scheint, müssen Maerad und ich das Baumlied finden.«
Nerili zog die Augenbrauen hoch. »Und was ist das Baumlied?«
»Das weiß niemand genau«, mischte Maerad sich ins Gespräch. »Nicht einmal Nelac. Trotzdem müssen wir es finden. Durch meinen Zukunftstraum und die Prophezeiung wissen wir, dass unser Ziel im Norden liegt.«
»Die Prophezeiung?«, hakte Nerili nach.
»Maerad spricht von der Prophezeiung des Sehers Lanorgil, die dieses Frühjahr in Inneil entdeckt wurde«, erklärte Cadvan. »Sie besagt, dass wir das Baumlied suchen müssen. Das Lied befindet sich an den Wurzeln der Hohen Sprache und birgt das Geheimnis all unserer Kräfte. Deiner Kräfte, Neri, und meiner und der jedes Barden in Annar. Und tief im Herzen des Bardentums stimmt etwas nicht, ganz und gar nicht. Das müsst selbst ihr hier im sicheren Hafen Thorolds wissen.«
Cadvan sprach mit solcher Überzeugung, dass der Argwohn aus Nerilis Zügen wich, und einen Lidschlag lang wirkte sie nur verängstigt, wenngleich sie sich rasch wieder sammelte.
Danach begannen Maerad und Cadvan, ihr die vollständige Geschichte ihrer Reise zu schildern. Es war eine verworrene Erzählung: Nerili unterbrach sie mehrmals mit Fragen und Mutmaßungen und lenkte das Gespräch in verschiedenerlei Richtungen. Die Stimmung entspannte sich, und Maerad gelangte zu dem Schluss, dass sie Nerili sehr mochte; sie sprach mit der Selbstsicherheit von jemandem, der um seine Autorität wusste, und hinter ihrer scheinbar nüchternen Fassade verbarg sich bereitwillige Herzlichkeit. Cadvans Züge waren unergründlich, und Maerad war außerstande zu erahnen, was er empfand.
Um sich abzulenken, kostete sie sich durch das Essen. Dabei stellte sie fest, dass sie Oliven mochte, wenngleich sie den bitteren, öligen Geschmack zunächst etwas unangenehm fand. Das
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