Die Pellinor Saga Bd. 2 - Das Rätsel
Neuigkeiten. Und er meinte, ihr wäret auf der Suche nach einer Zuflucht. Zuflucht wovor? Wenngleich euch anzusehen ist, dass ihr einige Schlachten geschlagen habt.« Dabei betrachtete sie die Gertennarben auf Cadvans Wange.
Plötzlich dachte Maerad: Sie ist eine Wahrheitsfinderin, genau wie Cadvan. Sie hätte nicht zu sagen vermocht, woher die Erkenntnis kam, sie wusste es einfach. Es war eine Gabe, die manche Barden besaßen: Wie Silvia ihr erklärt hatte, konnten Wahrheitsfinder die Wahrheit aus einem Menschen hervorkehren, selbst wenn sie nicht wussten, dass sie vorhanden war. Es war unmöglich, Wahrheitsfinder zu belügen. Mit neuem Interesse musterte sie Nerili. Cadvan hob das Glas an. »Ein guter Wein, Neri. Es ist eine Weile her, seit ich zuletzt thoroldische Trauben gekostet habe; ich hatte ganz vergessen, wie hervorragend sie sind.« Nerili lächelte kurz. Cadvan lehnte sich auf dem Stuhl zurück und atmete heftig aus.
»Ich erzähle dir zuerst die schlimmsten Neuigkeiten.« Seine Stimme nahm einen harten Klang an. »Maerad und ich suchen Zuflucht vor Enkir von Norloch, der das Licht verraten hat. Erst vor vier Tagen sind wir aus der Zitadelle geflohen; sie stand zu jenem Zeitpunkt in Flammen. Ich befürchte einen Bürgerkrieg in Annar und weiß, dass der Namenlose zurückkehrt, die Finsternis sich auf Annar zubewegt, und gleichzeitig mit ihrem Aufstieg fällt die Flamme von innerhalb in sich zusammen. Der Oberste Zirkel von Annar ist zerbrochen.« Nerili schluckte schwer und schwieg eine Weile, während sie Cadvans Gesicht musterte.
»Ich sehe, dass du keine Unwahrheit gesprochen hast«, verkündete sie leise, »dennoch vermag ich kaum, es zu glauben. Norloch brennt? Der Oberste Barde hat das Licht verraten?«
»Es ist wahr«, meldete Maerad sich zu Wort. Unvermittelt hatte sie ein Bild von Enkirs Gesicht vor Augen, kalt und voller Wut, und Maerad spürte selbst Zorn in sich aufsteigen. »Er ist schon seit langem ein Verräter. Der Oberste Barde Enkir hat meine Mutter in die Versklavung geschickt und Pellinor an die Finsternis verraten. Ich war noch ein kleines Mädchen, als es geschah, aber ich habe sein Gesicht wiedererkannt. Er wusste, dass er entdeckt worden war, und hat versucht, die Hälfte des Obersten Zirkels wegen Verrates einkerkern zu lassen. Er hat Soldaten nach uns ausgeschickt, und wir konnten nur mit Müh und Not und dank Owan d’Arokis Hilfe entkommen.«
»Er hat einen Ondril hinter uns hergeschickt«, fügte Cadvan hinzu. »Und keinen gewöhnlichen Ondril.«
Verwirrt schüttelte Nerili den Kopf und hob die Hand. »Kehren wir zum Anfang zurück«, schlug sie vor. »Du behauptest, dass Enkir für die Plünderung Pellinors verantwortlich ist? Das ist eine schwerwiegende Anschuldigung.« »Das hat er. Er wollte mich.« Maerad schaute zu Nerili auf und streckte trotzig das Kinn vor. Sie war es leid, ihre Geschichte erklären zu müssen. »Er wusste, dass meinen Eltern ein ausersehenes Kind geboren worden war. Wir haben keine Ahnung, woher er es wusste. Jedenfalls nahm er statt mich meinen Bruder Hem mit; er dachte, nur ein Junge könnte ausersehen sein.«
Nerili sog kurz, aber hörbar die Luft ein.
»Mein Vater wurde wie alle anderen getötet. Meine Mutter starb später in der Sklaverei.« Unvermittelt setzte Maerad ab und schlang die Finger um ihr Glas. Die bedrückende Erzählung bewirkte, dass all die alte Traurigkeit in ihr wieder aufstieg und ihr die Kehle zuschnürte.
»Die Ausersehene? Bist du sicher?«, fragte Nerili leise und schaute zu Cadvan.
Er nickte. Nerili beugte sich vor, ergriff mit der Hand Maerads Kinn und musterte sie eingehend. Maerad starrte ohne Angst oder Überraschung in Nerilis Augen; schon einige Barden hatten sie so durchschaut. Es war nicht ganz ein Seelenblick, sondern eher ein Abtasten. Sie spürte eine zarte Berührung in ihrem Geist, ein Licht wie Musik. Nach einer kurzen Weile setzte Nerili sich wieder hin und fuhr sich mit der Hand übers Gesicht.
»Ich brauche etwas Zeit, um das zu verarbeiten.« Sie ergriff ihr Glas und leerte es. »Maerad, ich weiß nicht, was du bist.«
»Das weiß ich auch nicht«, erwiderte Maerad ein wenig verzweifelt. »Du besitzt große Macht. Aber es ist eine seltsame, eine wilde Macht, wie ich sie noch nie gespürt habe.«
»In dieser Geschichte gibt es viele Rätsel«, meldete Cadvan sich zu Wort. »Allerdings bezweifle ich nicht, dass Maerad selbst das größte davon verkörpert. Niemand weiß, wozu sie in der Lage
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