Die Pellinor Saga Bd. 2 - Das Rätsel
Kiesel aus einem Bach aufheben und mir dessen Wahrheit sagen? Könntest du seine Geschichte endloser Äonen des Wassers, des Windes, des Eises und des Feuers erzählen? Nein, für dich wäre es nur ein in deiner Hand liegender Kiesel, von Bedeutung nur deshalb, weil du ihn aufgehoben hast. Aber das ist nicht seine Wahrheit.«
»Macht mich das zu einer Lügnerin?«
»Vielleicht.«
»Ich behaupte doch gar nichts«, sagte Maerad und fühlte sich plötzlich verzweifelt. Es stimmte: Sie behauptete nichts, konnte nichts behaupten. »Das erklärt nicht, weshalb Inka-Reb mich eine Lügnerin genannt hat. Er hat etwas anderes gemeint. Wenn du alles weißt, kannst du es mir ja vielleicht erklären.« »Ich weiß nicht, weshalb der Sänger dich als Lügnerin bezeichnet hat«, gab Arkan gleichmütig zurück. »Ich halte dich für eine Lügnerin, weil du zu wissen glaubst, was wahr ist. Du glaubst zu fühlen, was wahr ist. Aber du weißt noch gar nicht, was du fühlst und was du weißt. Du begehrst und greifst nicht zu, du liebst und fürchtest dich zu sehr, um deine Liebe zu fühlen, du verbirgst deine Eitelkeit und Kleinlichkeit vor dir selbst, du scheust davor zurück, in deine Seele zu blicken und zu erkennen, was du bist. Deshalb bist du eine Lügnerin.« Maerad spürte einen unerwarteten Stich und funkelte Arkan wütend an. »Du hast kein Recht, solche Dinge zu sagen«, klagte sie ihn an.
Er zuckte mit den Schultern. »Du hast mich gefragt. Und du weißt, dass ich die Wahrheit sage.«
Maerad schaute den Thronsaal entlang zu dem Becken. Arkan hat recht, dachte sie. Das meinen die Menschen damit, wenn sie sagen, wie jung ich bin. »Was ist, wenn ich die Wahrheit erkenne?«, fragte sie schließlich. »Dann wirst du dich elend fühlen«, gab Arkan zurück. »Deshalb ist es leicht zu verstehen, warum die Menschen solche Lügner sind.« Er schien innerlich zu lachen, und Maerad starrte ihn trotzig an.
»Warum sollte ein Mensch nicht das wählen, was wahr ist?«, wollte sie wissen. Einen Lidschlag lang verhakte Arkan den Blick mit dem ihren, dann schaute er weg; und als er es tat, schien der Thronsaal kurz zu wabern, als bestünde er aus Wasser statt aus Stein; gleichzeitig wirkte sein Antlitz wie ein doppeltes Gesicht, als wäre eine Maske zur Seite gerutscht. Darunter kam etwas Dunkles, Kaltes und Gefährliches zum Vorschein, das Maerad zum ersten Mal wirkliche Angst verspüren ließ. Dann saß die Maske wieder, doch der Eindruck verharrte wie ein Nachbild eines gleißenden Lichts. Ihr Herzschlag beschleunigte sich. Er wirkte nicht mehr so geheuchelt; seine Züge waren gut aussehend wie zuvor, doch nun besaßen sie Tiefe, Gewicht, Dunkelheit. Mit einem Schlag war Maerad zutiefst beunruhigt. »Ich habe nur einmal erlebt, dass ein Mensch gewählt hat, was wahr ist«, erklärte Arkan. »Warum sollten die Menschen das tun? Sie leben nicht lange genug, um wirklich etwas herauszufinden; sie gleichen Schneeflocken, die noch in der Luft sterben und sich auflösen.«
»Dir mag es so erscheinen«, gab Maerad zurück. »Aber für uns fühlt sich die Zeit anders an als für dich.«
Schweigen breitete sich zwischen ihnen aus. Maerad dachte an ihr Verlies, das sein Trugzauber in eine behagliche Kammer verwandelte. Vielleicht dachte der Winterkönig, dass dies wirklich dem entsprach, was sie bevorzugte, und wollte sich nach seinen Maßstäben freundlich zeigen.
»Warum hast du mich gefangen nehmen lassen?«, verlangte sie schließlich zu erfahren. »Ich weiß nichts über das Baumlied. Mir wurde gesagt, dass ich es suchen muss, damit dem Namenlosen bei seinem neuen Aufstieg kein Erfolg beschieden wird. Außerdem hat man mir erzählt, dass du mit ihm verbündet bist und er dich aus deiner Verbannung befreit hat. Stimm das?« Kurz setzte sie ab. »Außerdem hast du mir immer noch nicht verraten, woher du meinen wahren Namen kennst.«
»So viele Fragen! Du bist ungeduldig«, stellte der Winterkönig fest. »Es war nicht schwierig, deinen wahren Namen zu erfahren. Wenn du tatsächlich die Vorhergesagte bist, konntest du keinen anderen Namen haben. Ein kleiner Makel in den Plänen womöglich? Denn jeder, der auf die Zeichen achtet und die Überlieferungen kennt, kennt auch deinen Namen. Eure Propheten besaßen Weitsicht, aber keine Weisheit.« Er lächelte sie an, Maerad hingegen schauderte: Auch der Namenlose würde ihren wahren Namen kennen.
»Und ist der Namenlose dein Verbündeter?«
Arkans Mund bildete eine schmale Linie. »Ich
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