Die Pellinor Saga Bd. 2 - Das Rätsel
was geschieht. Ein Lied für den Winterkönig vielleicht. Womöglich verwandelt sein Bann mein Spiel mit der verstümmelten Hand in ein richtiges Lied. Eine Weile probierte sie herum, versuchte, den Griff um das Instrument dem Fehlen ihrer Finger anzupassen, dann schloss sie die Augen und strich mit der rechten Hand über die Saiten.
Schlagartig wurde ihr klar, was sie sich nicht hatte eingestehen können: Sie würde nie wieder in der Lage sein, Leier zu spielen. Sie konnte ihre linke Hand nicht mehr dafür verwenden, die Seiten zu drücken oder zu dämpfen, um Akkorde zu bilden. Der Schmerz des Verlustes der Musik schien geradewegs von ihren fehlenden Fingern in ihr Herz zu schnellen, und sie stützte die Stirn auf das Instrument, während die Töne in Stille verhallten. Wehmütig atmete sie den Geruch des duftenden Mandelöls ein, mit dem sie die Leier poliert hatte. Dann jedoch holte sie tief Luft. Na schön, ich habe also nur noch anderthalb Finger und einen Daumen, dachte sie. Aber ich besitze noch andere Teile der Hand. Vielleicht kann ich zumindest ein wenig spielen.
Abermals setzte sie sich aufrecht hin, und diesmal versuchte sie es mit einem einfachen Akkord, für den sie nur Zeigefinger und Daumen benötigte. Melodisch hallte er durch den Raum; dabei verschwand der Mondstein, und Maerad befand sich plötzlich in einem Verlies. Sie starrte auf die Öllampe an der Wand vor ihr und bemerkte, wie sie verschwamm und schließlich verpuffte, während der Akkord in der Luft erstarb. Maerad kniff die Lippen zusammen und setzte zu einem anderen, schwierigeren Akkord an. Er hörte sich leicht verzerrt an, da sie ihn nicht gänzlich rein zuwege brachte. Dennoch verschwand der verhexte Raum neuerlich.
Sie legte die Leier beiseite und grübelte eine Weile. Dies musste ihre Leier sein; kein magisches Scheinbild eines Instruments könnte genug Zauberkraft enthalten, um der Macht des Winterkönigs gewachsen zu sein. Aber warum hatte er sie ihr dann gegeben? Gewiss hatte er erwartet, sie würde herausfinden, dass die Leier seine Hexerei aufhob. Abermals stimmte sie den Akkord an, und diesmal gelang es ihr, in rein erklingen zu lassen. Dasselbe geschah. Doch als der Bann verschwand, schmerzte ihre Hand, und nach drei Akkorden war der Schorf aufgebrochen und die Wunde begann zu bluten. Sie legte das Instrument wieder weg und starrte darauf, als hätte sie es noch nie zuvor gesehen. Ungeachtet des Wissens, dass in die Leier das Baumlied eingeritzt war, gewann sie allmählich den Eindruck, dass in den Bau des Instruments mehr Magie eingeflossen war, als sie vermutet hatte; mehr sogar, als der Winterkönig wusste - weshalb sonst hätte er es ihr überlassen sollen?
Ihren Tod wollte der Winterkönig nicht - ohne den Bann war ihr Verlies lediglich kalt und ungemütlich. Auf ihrer Pritsche in Gilmans Feste hatte sie bei größerer Kälte geschlafen, ohne Schaden zu nehmen. Sie dachte an die Schwäche des Vortags zurück, die sie verspürt hatte, als sie vor dem Winterkönig stand. Ihr Körper war noch nicht stark genug, um sich auf ihn zu verlassen. Sie musste völlig heilen und zu Kräften kommen, bevor sie an Flucht denken konnte. Der Winterkönig wollte das Baumlied, doch aus irgendeinem Grund betrachtete er auch sie als wichtig. Sie musste herausfinden, weshalb. Sie musste alles herausfinden, was sie konnte. Danach musste sie ihm entfliehen und nach Annar zurückkehren.
Maerad war gerade zu diesem Schluss gelangt, als Gima mit einer Mahlzeit eintrat, fettem, geschmortem Raucher fleisch, dazu eine Art Gemüsebrei, verfeinert mit Dill und saurer Ziegenmilch. Zum ersten Mal lächelte Maerad die alte Frau an, und Gima lächelte zurück. Maerad verschlang das Essen hungrig. Sie wagte nicht, sich auszumalen, was es in Wirklichkeit sein mochte wahrscheinlich jedenfalls etwas anderes, weniger ansprechendes -, aber es war heiß, und das kräftigende Gefühl, das es ihr vermittelte, empfand sie als beruhigend.
»Du isst aber heute tüchtig«, stellte Gima fest. »Wenn du so weiter machst, wirst du noch ein fettes kleines Fischlein.«
»Es schmeckt wirklich gut«, erwiderte Maerad. »Hast du es gekocht?« »Oh, vielen Dank, aber nein«, antwortete Gima kichernd. »Der Meister hat genug Köche in seinen Küchen, um mich von den Töpfen und Pfannen fernzuhalten. Ich bringe die Speisen nur.«
»Wie viele Köche sind es denn?«, erkundigte sich Maerad.
»Ach, mindestens vierzig oder fünfzig. Außerdem andere Diener, die Betten
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