Die Pellinor Saga Bd. 2 - Das Rätsel
den Himmel.«
»Dagegen spricht nichts«, gestand Arkan ihr zu. »Und wie findest du meinen Palast?«
»Er ist außerordentlich schön«, antwortete Maerad wahrheitsgemäß. »Aber auch seltsam. Ich habe den ganzen Tag keine Menschenseele gesehen. Gima sagte, dass hier hunderte Leute leben, aber ich bin niemandem begegnet.« »Beunruhigt dich das? Ihnen wurde aufgetragen, dir aus dem Weg zu gehen, weil ich fürchtete, sie könnten dich ängstigen. Aber du zitterst; vielleicht sollten wir wieder hineingehen.« Arkan drehte sich und reichte Maerad höflich den Arm, als befänden sie sich nicht an einem kahlen Gebirgshang, sondern stünden in einem Saal in Annar und wären im Begriff, ein Fest zu betreten. Kurz zögerte sie, dann hakte sie sich bei ihm ein. Dabei kroch eine betäubende Kälte in ihre Hand. Zusammen gingen sie zurück. Sofort wurde es wärmer. Maerad blickte die eisweißen Wände mit ihren Eisensäulenreihen hinab. Wunderschön, dachte sie, aber sehr kahl. Alles hier besteht aus Eis und Eisen. Vielleicht kann der Winterkönigsich nichts anderes vorstellen.
»Ich musste heute an Inneil denken«, erzählte sie im Plauderton. »Es war die erste Schule, die ich je gesehen habe. Abgesehen von Pellinor, meine ich, aber daran kann ich mich nicht besonders gut erinnern. Inneil ist ein herrlicher Ort.« »Ich bin nie dort gewesen, obwohl ich ihn mit meinem geistigen Auge gesehen habe«, erwiderte Arkan. »Ja, der Ort besitzt eine gewisse Schönheit.« »Ich vermisse Grün. Grüne Felder, grüne Bäume, Blumen …«
»Solches Grün welkt und erstirbt«, gab Arkan zurück. Höflich löste er Maerads Hand von seinem Arm und deutete auf eine aus poliertem schwarzem Stein gehauene Nische. »Sieh dir das an.«
Mit einem erstaunten Japsen erkannte Maerad, dass die Nische einen großen, makellosen Diamanten beherbergte, der fast so hoch aufragte wie sie; er war wesentlich größer als der Kristall der Weißen Flamme in Norloch und unvergleichlich schön. Licht brach sich an seinen Facetten in jeder erdenklichen Farbe, und als sie den Blick darauf verharren ließ, fühlte sie sich wie gebannt, als könnte sie in das glitzernde Labyrinth versinken und würde nie wieder herausfinden.
»Das ist besser als dein Grün«, meinte Arkan. »Es stirbt nicht.«
»Nur, weil es nicht lebendig ist«, entgegnete Maerad und löste sich mit Mühe aus dem Bann des Diamanten. Sie schaute in Arkans Antlitz auf und verspürte in sich wachsendes Erstaunen über die Seltsamkeit ihrer Unterhaltung. Arkan kam ihr verändert vor, seit sie den Schatten seines wilden Wesens gesehen hatte; als sie ihm zum ersten Mal begegnet war, hatte sie ihn als gut aussehend, aber kalt und etwas abstoßend empfunden. Nun nahm sie seine Lebendigkeit wahr, eine Kraft wie die eines Sturms, die ihre Haut zum Kribbeln brachte.
»Ich bin lebendig«, sagte Arkan mit dem ihm eigenen Hochmut, als sie weitergingen. »Und ich sterbe nicht. Der Wind ist lebendig, der Schnee ist lebendig, das Eis ist lebendig, die Berge sind lebendig. Fels und Eis besitzen eigene Stimmen, eigene Leben, einen eigenen Atem, einen eigenen Puls. Willst du ihnen das verleugnen?«
»Nein«, erwiderte Maerad, der es nicht gelang, die Traurigkeit in ihrer Stimme zu verbergen. »Aber ich mag Blumen.«
»Wenn du Blumen begehrst, dann erschaffe ich dir welche.«
»Es wären Blumen aus Eis. Wunderschön, aber kalt. Das wäre nicht dasselbe. Trotzdem danke.«
Eine Weile liefen sie schweigend durch die endlosen, prächtigen Gänge, und Maerad ertappte sich dabei, dass sie die Herrlichkeit von Arkan-da mit anderen Augen bewunderte. Sie vermeinte, dass sich die Ziermuster der Säulen kaum merklich verändert hatten; sie entdeckte Blumen darin, alle mit sechs Blütenblättern, aber unendlich mannigfaltig und verschlungen. Der Gegenwart des Mannes, der neben ihr einherschritt, war sie sich ständig bewusst, auch wenn sie ihn nicht ansah.
»Warum trachtest du danach, mich zu erfreuen?«, erkundigte sie sich und durchbrach damit die Stille. »Du könntest mich ebenso gut in einen dunklen Kerker werfen. Welchen Unterschied würde das für dich machen?« »Es ist besser, wenn du mich nicht hasst oder fürchtest«, antwortete Arkan. »Aus Hass und Angst kann kein Lied entstehen. Das hat Sharma nie begriffen.« »Was ist denn nötig, um ein Lied zu erschaffen?«, wollte sie wissen. Arkan drehte sich ihr zu und blickte ihr unverwandt ins Gesicht. Maerads Herz setzte einen Schlag aus. »Das weißt du
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