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Die Pellinor Saga Bd. 2 - Das Rätsel

Die Pellinor Saga Bd. 2 - Das Rätsel

Titel: Die Pellinor Saga Bd. 2 - Das Rätsel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alison Croggon
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einen plötzlichen Anflug von Sehnsucht nach dessen sanften grünen Landschaften, die sich so sehr von der rauen Pracht des Nordens unterschieden. Vor ihrem geistigen Auge sah sie Silvia, ernst, fröhlich und wunderschön zugleich, wie sie sich ihr zudrehte, das Antlitz voller Licht, die Lippen zu dem geöffnet, was sie Maerad gerade darbieten wollte -ein Lied, einen Scherz, einen Kuss.
    Stumm begann Maerad, das Gedicht zu lesen und dabei die Lippen zu bewegen; dabei hörte sie im Geiste die Melodie von Dernhils Stimme, der es ihr in einem anderen Zeitalter ihres Lebens in seinen Räumlichkeiten in Inneil vorgelesen hatte:
     
    Der Atem des Himmels berührt meine Lippen mit einer einzelnen Blüte, die niederfällt: Meine Liebste, diese einzelne Blüte bist du.
    Die Gazelle blickt auf vom Nass des Tümpels, von einem Funken geblendet, der hell erglüht: Meine Liebste, dieser einzelne Funke bist du.
    Der Pfau schreit in dem leeren Garten einer Träne gedenkend, die ihn an Glanz überstrahlt: Meine Liebste, diese einzelne Träne bist du
    O Blüte, du meines Gartens Verzücken!
    O Funke, du meines Herzens Feuersbrunst!
    O Träne, du meines Kummers anschwellendes Meer!
     
    Ein eisiger Splitter schien in Maerads Herz zu schmelzen, während sie las, und sie schaute blind, die Augen voller Tränen, von der Seite auf. Dernhil würde dieses Gedicht nie wieder jemandem vorlesen, würde nie wieder ernst in seinem Arbeitszimmer sitzen, den Mantel achtlos über einen nahen Stuhl geworfen, umgeben von krummen Büchertürmen, vertieft allein in das Kratzen seiner Feder auf Pergament. Ja, wir sind zerbrechlich, dachte Maerad; aber in dieser Zerbrechlichkeit liegt solche Stärke und solche Schönheit; solche Liebe … gewiss ist das alles nicht umsonst. Gewiss bedeutet es etwas, selbst wenn die Finsternis uns völlig überwältigen sollte. Kummer durchflutete sie, und sie vergrub das Gesicht in den Händen. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie zuletzt geweint hatte. Bei Dharins Tod war sie unfähig dazu gewesen. Ihre Verzweiflung hatte ihre Seele welken lassen: Sie war zu verletzt gewesen, um sich etwas so Großmütiges wie Tränen zu leisten. Endlich trauerte sie um ihn, um seine Sanftmütigkeit, seinen Mut, seine Freundschaft, spürte die Wunde, die seine Abwesenheit in ihr hinterlassen hatte. Sie weinte um Dernhil und Cadvan, um Darsor, um Imi, um Hem und seine zerrüttete Kindheit, um ihre Mutter und ihren Vater, die so grausam getötet wurden; und letztlich weinte sie um sich selbst. Und während sie weinte, beschlich sie das Gefühl, als wären all jene, die sie liebte und vermisste, die Toten und die Lebenden, irgendwie anwesend, und in ihrem Kummer schwang ein bittersüßer Trost mit.
    Schließlich verebbten die Tränen. Maerad blinzelte, rieb sich die Augen und sah, dass sie sich im Verlies befand, nicht in ihrer verhexten Kammer. Es war kalt. Sie schlang ihre Gewänder enger um sich und blickte zurück hinab auf das Buch. Im trüben, flackernden Licht der Öllampe wirkten die Farben noch bunter.
    Ich bin frei, dachte Maerad. Ich bin hier eine Gefangene, und dennoch bin ich endlich frei.

Fünfundzwanzigstes Kapitel
     
Das Lied
    Maerad beschloss, Arkan beim Wort zu nehmen, und da Gima an jenem Tag nicht noch einmal in ihr Zimmer kam, begann sie den Eispalast auf eigene Faust zu erkunden. Ihre Kammer zeigte sich nun wieder als Mondsteinraum, der nun jedoch ein Gefühl der Unwirklichkeit vermittelte, als wäre er etwas weniger beständig als zuvor. Maerad achtete darauf, sich den Weg zu merken, den sie einschlug; sie wollte sich nicht verirren. Sie beschloss, sich mit Abzählen zu behelfen, als würde sie sich ein verschlungenes Musikstück einprägen, damit sie den Weg zurück finden würde. Niemand hielt sie auf; es war niemand da, der sie hätte aufhalten können.
    Arkan-da war gespenstisch und verwaist. Dabei schien es sich um einen betriebsamen Ort zu handeln, an dem Menschen lebten, arbeiteten und aßen, aber wohin Maerad auch kam, überall wirkte es so, als hätte jeder alles stehen und liegen lassen und wäre gegangen, bevor sie eintraf. Sie lief endlose Flure mit etlichen Türen entlang, und indem sie die Vorhänge davor anhob, offenbarte sich ihr eine verblüffende Vielfalt von Räumen. Bei einigen handelte es sich um Schlafgemächer, schlicht eingerichtet, aber wunderschön, mit einigen persönlichen Dingen über das Bett oder den Boden verteilt, als wäre eben noch jemand zugegen gewesen. Außerdem sah sie

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