Die Pellinor Saga Bd. 2 - Das Rätsel
beiseite und durchwühlte ihr Bündel, bis sie die Heilsalbe fand. Ein wenig war noch übrig. Sie schmierte sich die Hand damit ein, bis das Brennen etwas nachließ, dann ergriff sie wieder die Leier. Sie spielte eine Ballade, die sie mit Cadvan gesungen hatte; die Akkorde dazu waren einfach, wenn sie die Melodie nicht zupfte. Es war die Ballade von Andomian und Beruldh, eine kurze Einleitung zu einem längeren Lied. Mit neuem Gefühl sang Maerad die alte Geschichte von Andomians Gefangenschaft und Tod in der Festung des Hexers Karak, von der Liebe, die sie für ihre Brüder empfand, von Beruldhs Liebe für sie; es war, als hätte sie das Lied nie richtig gesungen, als hätte sie nie wirklich verstanden, was es bedeutete. Vielleicht hatte Cadvan geahnt, dass es irgendwie auf ihr eigenes Schicksal vorausdeutete, als sie es an jenem Abend vor so langer Zeit in einem Birkenhain namens Irihel gespielt hatte, kurz nachdem sie Gilmans Feste verlassen hatten. Vor ihrem geistigen Auge sah sie sein ernstes, dunkles Antlitz und spürte erneut mit unvermindertem Schmerz, wie sehr sie ihn vermisste.
Ich muss hier bald weg, bevor der Winterkönig mich völlig verwirrt, dachte sie und steckte die Leier behutsam zurück in ihre Hülle. Ich bin eine Elidhu, eine Bardin und eine Pilani — und jeder dieser Teile meiner selbst zieht in eine andere Richtung. Wie soll ich je herausfinden, wer ich bin ? Kann ich je vollständig und mir selbst treu sein ? Und wie kann ich überhaupt von hier weg ? Arkan scheint so sicher zu sein, dass es nicht möglich ist. Vielleicht hat er recht.
Ein Teil von ihr vollführte bei dem Gedanken einen Freudensprung, doch sie stellte sich ihren Gefühlen entschlossen, begutachtete sie so unvoreingenommen wie möglich, ohne über sie zu urteilen oder sie zurückzuweisen. Also, dachte sie, um sich zu festigen, ich vermeine, den Winterkönig zu begehren. Das bedeutet nicht, dass ich ihm gestatten werde, mich einzukerkern. Wenn in mir Elementarblut fließt, bin ich ein wildes Geschöpf, das man nicht in einen Käfig sperren oder fesseln darf. Ich bin wie die Wölfe in den Bergen und muss mein eigenes Lied singen. Das muss er wissen. Er kann mich nicht hierbehalten, wenn ich nicht bleiben will. Sie sah Hems schmales Gesicht vor sich, seine dunkelblauen, von tiefen Schatten heimgesuchten Augen. Ich muss Hem finden, dachte sie leidenschaftlich. Er ist alles, was mir noch geblieben ist. Und er braucht mich, mehr als alles andere auf der Welt. Eine gramerfüllte Liebe durchflutete ihren Körper, ein süßer, untröstlicher Schmerz, der sie aus ihrem Innersten durchdrang. Hem, mein Bruder…
Voll Erregung spürte sie, wie Magie ihre Adern zu durchströmen begann, ein feuriges Prickeln, das sich von ihrem Herzen bis in die Fußsohlen, die Fingerspitzen und zum Scheitel ausbreitete. Maerad hatte ganz vergessen, wie es sich anfühlte, jene Macht zu spüren: Es schien so lange her, dass sie in ihr gelebt hatte, frei und ungezügelt. Seit mittlerweile Wochen hatte sie sich mit ihrem Verschwinden abgefunden. Erstaunt und erleichtert blickte sie auf ihre Hände hinab: Sie schimmerten mit einem silbernen, magischen Licht. Dabei sah sie, dass ihre Hand nun fünf Finger aus Licht besaß: In ihrer Macht war sie noch heil, unversehrt.
Langsam, zögerlich ließ sie das Licht verblassen. Ich muss mich abschirmen, dachte sie. Der Winterkönig darf es nicht erfahren. Aber wie sollte er den Strom ihrer innewohnenden Macht nicht spüren? Sie fragte sich, ob sie sich mit ihrer zurückgekehrten magischen Kraft unsichtbar machen könnte. Allerdings würde ein Trugbann dafür nicht reichen: Es musste etwas tiefer Reichendes sein. Maerad bündelte die Gedanken und stieß in ihr Innerstes vor. Die Mondsteinwände waberten und verschwanden.
Sofort löste Maerad den Bann, und der verhexte Raum kehrte zurück. Dann schirmte sie sich ab, weil sie fürchtete, Arkan könnte bereits wissen, dass ihre Magie sich wieder eingefunden hatte. Sie musste mehr erfahren; sie musste die Grenzen des Wissens und der Macht des Winterkönigs kennen. Denn er wusste nicht alles; und tief in ihrem Innersten war sie überzeugt davon, dass seine Macht nicht allumfassend war.
Morgen, dachte sie, werde ich zum Ausgang gehen und wieder den Himmel sehen.
Maerad erwachte aus unruhigen Träumen, blieb im Bett liegen und sandte ihr Gehör aus. Im Palast herrschte wie immer Stille. Sie vernahm keine fernen Schritte auf Stein, kein Gemurmel von Unterhaltungen, kein
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