Die Pellinor Saga Bd. 2 - Das Rätsel
flüchtig erschien, dass sie sich unsicher fühlte; bei ihm wirkte er irgendwie anders. Und überhaupt, warum hütete ein Barde hoch droben in den Bergen Ziegen?
Das Haus umgab eine kleinere Nachbildung der auf Thorold allgegenwärtigen breiten Vorbauten. Dort standen ein Tisch und ein Stuhl. Ankil ging ins Haus und kehrte mit drei weiteren Stühlen zurück. »Gäste sind hier eher selten«, erklärte er vergnügt. »Deshalb müsst ihr die Spinngeweben an diesen Stühlen verzeihen.« Er wischte sie ein wenig ab und begab sich abermals ins Haus. Maerad stellte ihr Bündel auf der Veranda ab und nahm dankbar Platz. Alsbald kam Ankil mit einem Tablett heraus, auf dem sich eine Karaffe mit vollmundigem, thoroldischem Wein, eine weitere Karaffe mit Wasser, vier Becher, frisches Brot und Käse befanden. Alle setzten sich und aßen; die Gebirgsluft und die lange Wanderung hatten ihren Appetit angeregt. Gemessen an den üblichen Unterkünften der Hirten besaß Ankil ein prächtiges Haus. Zwar war es kleiner als die meisten Gebäude, die Maerad unterwegs in den Dörfern gesehen hatte, aber wesentlich robuster als die schlichten Holzkaten, die über die Hochweiden verteilt standen. Später erfuhr sie, dass Ankil im Gegensatz zu anderen Hirten, die nur im Sommer auf die Gebirgsweiden zogen, das ganze Jahr über hier lebte. Das Haus war eindeutig sehr alt und mit dicken Granitwänden errichtet, in denen kleine Fenster mit Läden prangten. Das aus Lehmziegeln angefertigte Dach wies eine steile Neigung auf, damit sich kein Schnee darauf auftürmen konnte, und das ganze Bauwerk stand auf hohen Grundfesten, weshalb mehrere Stufen zum Vorbau hinaufführten.
Unüblicherweise für ein thoroldisches Haus bestand es aus drei Ebenen: Es gab einen Keller, der zum Arbeiten und als Lagerraum diente, darüber eine Küche und einen Wohnbereich und zuoberst, über dem Kamin, zwei Schlafzimmer mit schrägen Decken und Dachfenstern, die durch die Ziegel lugten. In den Zimmern lagen duftende Matratzen, gefüllt mit getrocknetem Gebirgsgras und bedeckt mit weichen Schafsfellen. Während ihres Aufenthalts zog Ankil in eine der Hütten, wo er in den leeren Ställen auf einer Matratze schlief, denn die Ziegen blieben während des Sommers in den Nächten auf der Weide. Maerad fühlte sich schuldig, aber Ankil lachte nur und meinte, es mache ihm nichts aus, wie ein richtiger Ziegenhirt zu nächtigen.
Bald fand sie heraus, weshalb Ankil einen so verwirrenden Bardenschimmer besaß. Er und Elenxi waren leibliche Brüder.
»Als ich ein Junge war, ging ich so wie Elenxi zur Schule«, erzählte er ihnen beim Mittagsmahl. »Aber wisst ihr, ich wollte einfach kein Barde werden. Ganz im Gegensatz zu Elenxi.« Dabei stupste er seinen Bruder verspielt. »Er ist der Schlaue von uns beiden. Mich hingegen hat das alles gelangweilt.« »Er war verliebt«, ergänzte Elenxi grinsend.
»Nun ja, das auch«, gestand Ankil. »Meine Kiranta war die schönste Frau, die ich je gesehen habe. Ihre Augen waren so grau und stürmisch wie das Meer, ihre Haare so schwarz wie Oliven, und ihre Haut glich der blassgoldenen Seide, die hier in den Tälern gemacht wird. Ja, ich war in sie verliebt. Aber es lag nicht nur daran: Ich konnte nicht Lesen und Schreiben lernen. So sehr ich mich auch bemühte, ich konnte diesen Krakeln, die man als Buchstaben bezeichnet, einfach keinen Sinn entlocken.«
»Was also geschah?«, fragte Maerad neugierig.
»Tja, nachdem meine Lehrmeister allesamt verzweifelt die Arme in die Luft gerissen und verkündet hatten, dass sie machtlos waren, kehrte ich nach Velissos zurück und heiratete meine Kiranta. Ich wollte ohnehin kein Barde sein, sondern nur meine Ziegen, meine Bäume und meinen Garten hüten und meine Kinder großziehen. Eine lange Weile war ich sehr glücklich. Aber dann«, berichtete er und zuckte mit den Schultern, »wurden meine Kinder erwachsen und meine Kiranta alt, wie es dem Lauf der Dinge entspricht. Und da holte mich das Bardentum ein, denn ich alterte nicht. Ich hatte mich gegenüber der Zeit meiner Rückkehr aus der Schule kaum verändert, Kirantas Haar hingegen wurde erst grau, dann weiß. In meinen Augen jedoch sah Kiranta unverändert aus, denn ich liebte sie. Für mich blieb sie immer dasselbe wunderschöne Mädchen, das mit leuchtenden Augen auf dem Pass nach mir Ausschau hielt.«
Ankil seufzte tief, und Maerad spürte, wie ihr Tränen in die Augen traten. Cadvan musterte Ankil mitfühlend. »Das ist hart«, meinte
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