Die Pellinor Saga Bd. 4 - Das Baumlied
aufs Neue. Die Elidhu stand ein kurzes Stück entfernt in ihrer Verkleidung als die ernste Königin von Rachida im Gras. Sie trug ein schlichtes weißes Kleid, das um ihren Leib schimmerte, als wäre es aus Mondschein gewoben. Ein an einem silbrigen Haarband befestigter Mondstein hing ihr in die Stirn, ihre Hüfte schmückte eine Silberkette. Das lange offene Haar fiel ihr gleich einem silbrigen Wasserfall über den zierlichen Rücken. Sie richtete die gelben Augen mit den unmenschlich geschlitzten Pupillen auf Maerad, und ihr Blick reichte tief. Maerad verneigte sich atemlos, außerstande zu sprechen. Darsor und Keru, die in der Nähe grasten, wieherten zur Begrüßung. Maerad fand, dass es eigenartig klang, als hießen sie eine liebe Freundin willkommen. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie Cadvan sich auf die Beine rappelte und verneigte; Ardina drehte sich zu ihm und zollte seiner Ehrerbietung mit einem Nicken Anerkennung. »Und auch du sei gegrüßt, Cadvan von Lirigon.«
»Sei gegrüßt, Ardina«, brachte Maerad stockend hervor. Die Ehrfurcht, die sie angesichts Ardinas Gegenwart in dieser Verkleidung verspürte, lähmte ihre Zunge. Es war ihr wesentlich leichter gefallen, mit ihr zu reden, als sie beide in der Gestalt von Wölfinnen aus Arkans Palast geflohen waren.
»Du hast mich gebeten zu kommen, also bin ich gekommen«, sagte Ardina. Maerad fiel auf, dass sie sich nicht der Sprache der Elementare bediente, sondern der Hohen Sprache. Vermutlich war sich Ardina Cadvans Misstrauen ihr gegenüber bewusst.
»Ich… ich wollte wissen, ob du mir helfen kannst«, erwiderte Maerad. »Ich werde helfen, sofern ich kann«, gab Ardina zurück. »Nenn mir dein Begehr.« Was Maerad als Nächstes sagte, überraschte sie. »Ich will wissen, ob Hem - mein Bruder - am Leben ist.«
»Womöglich bin ich nicht in der Lage, dir das zu sagen«, antwortete Ardina. »Ihm stehe ich nicht nahe, wie ich dir nahe stehe. Er könnte in meiner Zeit am Leben sein, nicht aber in der deinen. Und in vielen Zeiten ist er nicht vorhanden. Aber ich will es versu-hen.« Die Elidhu schloss die Augen, und das fahle Licht, das ihr innewohnte, schwoll kurz an. Maerad wartete mit angehaltenem Atem. »Ich weiß nicht, wie es deinem Bruder geht oder wo er ist«, verkündete Ardina schließlich, öffnete die Augen und sah Maerad unverwandt an, die an sich halten musste, um nicht den Blick abzuwenden. »Ihm haftet der Geruch des Todes an, dennoch glaube ich nicht, dass er tot ist. Er wandelt in vielen möglichen Zukünften und vielen möglichen Vergangenheiten, und seine Pfade sind von Schmerz gezeichnet. Dein Bruder ist beinah so unglückselig wie du.« Ardina lächelte, doch aus dem Lächeln sprach eine tiefe Traurigkeit.
»Bedeutet - bedeutet das, ich sollte weiter nach ihm suchen?«, fragte Maerad mit brechender Stimme.
»Ich werde dir keinen Rat erteilen. In dieser wie in allen anderen Angelegenheiten musst du deinem Herzen folgen. Aber ich denke, wenn du suchst, wirst du finden. Was du finden wirst, vermag ich nicht zu sagen.«
Niedergeschlagen blickte Maerad zu Boden. »Ich weiß nicht, wie ich suchen soll«, gestand sie. »Manchmal vermeine ich zu fühlen, wo er sein könnte, aber es ist alles so verschwommen. Ich dachte, ich könnte vielleicht erspüren, wo er sich aufhält. Ich weiß, dass ich Kräfte besitze, die nicht die einer Bardin sind, aber ich verstehe nicht, wie ich sie einsetzen muss. Ich hatte gehofft, du könntest es mir vielleicht sagen.«
Ardina lachte, und ihr Gelächter glich einem kühlen Regen, der Maerad einen angenehmen Schauder über den Rücken jagte. »Ah, Elednor Edil-Amarandh na! Ich bin keine Lehrmeisterin. Aber selbst wenn ich das wäre, könnte ich dich nicht lehren, deine Magie anzuwenden. Sie ist weder die der Elidhu noch die der Barden, wenngleich sie Teile von beidem aufweist.«
»Wie beim Namenlosen«, stieß Maerad leise hervor.
»Ja, wie bei Sharma. Aber wisse dies, meine Liebe: Das Licht und die Finsternis sind nicht so verschieden, und beide können nicht ihre volle Macht entfalten, bis sie ihre wahre Natur anerkennen, ob Feuer und Eis, ob Sonne und Schatten. Aber du bist zugleich nicht wie Sharma. Während du einer Feuerlilie gleichst, die stetig dem Licht zuwächst, ist er ein giftiger Dampf, der die Luft verschlingt, sodass nichts mehr leben kann.«
»Wie kann Maerad ihre wahre Natur erkennen?« Maerad zuckte überrascht zusammen; es war Cadvan, der das Wort ergriffen hatte. Ob der Verzauberung
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