Die Pellinor Saga Bd. 4 - Das Baumlied
vor.
Maerad starrte sie an. »Ja«, sagte sie. »Ja, das glaube ich auch … aber niemand weiß, wann das Baumlied zum ersten Mal gesungen wurde. Da ist nur diese Geschichte, die Ankil uns über das Geteilte Lied erzählt hat…«
»Ah ja«, ergriff Cadvan das Wort. » Und so kam es aus dem Nichts in das Jetzt und glitt in die Adern der Elidhu, als wäre es ein Schwärm von winzigen Fischlein, die in einen Bach schlüpften, und jeder Elidhu spürte das Lied in sich wie einen Schauder des Lebens, und all die Geräusche der Welt explodierten in ihnen: das Prasseln des Regens, das Rauschen der See, das endlose Seufzen des Windes durch die grünen Bäume. Erstaunt öffneten sie die Münder, und das Lied sprang daraus hervor und wurde endlich es selbst.«
»Das ist wunderschön«, meinte Hekibel, die aufmerksam lauschte.
Saliman starrte auf seine Hände. Seine rastlosen Züge wirkten grüblerisch. »Ich glaube, was vielleicht gefehlt hat, war der richtige Ort«, verriet er seine Gedanken. »Das ergäbe einen Sinn. Schließlich sind die Elidhu Kreaturen ihrer jeweiligen Orte. Aber welcher Ort wäre es in dem Fall? Der Berg des Winterkönigs? Oder vielleicht ein Ort wie Nal-Ak-Burat, wo Hem Nyanar gesehen hat?« Maerad schüttelte den Kopf, und Cadvan sagte: »Ich finde, das ist unwahrscheinlich. Nach allem, was Maerad mir erzählt hat, gehört das Lied keinem einzelnen Elidhu.«
»Naja, dann ist der Ort vielleicht der, an dem es zum ersten Mal in Edil-Amarandh aufgetaucht ist«, erwiderte Saliman. »Wo immer das sein mag.«
»Wir sollten nicht über das Baumlied nachdenken, sondern über die Runen«, wandte Maerad leise ein. »Und die Runen wurden in Afinnil geschaffen, von Nelsor selbst, in den Tiefen der Zeit…«
»Wenn es darum geht, etwas rückgängig zu machen, was zu Unrecht getan wurde, dann ist der Ort der Tat der richtige Platz«, meinte Cadvan. Er hörte sich an, als zitierte er etwas, und Saliman schaute auf und lachte unerwartet.
»Menellins Regeln«, sagte er. »Jeder Jungbarde in Annar kennt sie auswendig. Wie oft habe ich mir doch gewünscht, er hätte nicht so viele verfasst, als ich sie immer und immer wieder in den Lernsälen durchkaute, während ich beobachtete, wie draußen die Sonne spielte! Aber ja, vielleicht sollten wir uns wirklich unserer ersten Lektionen besinnen …«
Maerad blickte mit glänzenden Augen starr ins Feuer.
»Afinnil ist der Ort«, verkündete sie. Als sie sprach, beschlich jene, die zuhörten, der Eindruck, dass sich ein Widerhall um ihre Worte scharte, als schwängen viele Stimmen mit der ihren mit. »Wir müssen nach Afinnil reisen, um es zu singen. Unter dem Zeichen von Ura, neben Esche, Erle und Weide, in der Jahreszeit der Erneuerung …«
Ausdrucksloses Schweigen setzte ein.
»Das ist ja alles schön und gut«, meinte Cadvan schließlich. »Aber Afinnil gibt es nicht mehr. Der Namenlose hat diese Stadt mehr als alle anderen gehasst und sie vom Antlitz der Erde gefegt. Selbst die Trümmer wurden zu Staub zermalmt und in die sechzehn Winde verstreut. Und niemand, der noch lebt, vermag zu sagen, wo sie sich einst befand.«
Der Tanz der Toten
In der Nacht fand Maerad keinen Schlaf. Sie lag mit offenen Augen auf dem Rücken, starrte auf die Schwärze des rauen Steins über ihr und lauschte dem sanften Atmen ihrer Gefährten. Hem regte sich rastlos im Schlaf und begann zu schnarchen. Maerad musste bei dem Geräusch lächeln und daran denken, wie sie ihn in den Armen gehalten und beruhigt hatte, wenn ihn Albträume plagten. Das schien so lange her zu sein, in einem anderen Leben. Damals hatte sie noch nicht einmal gewusst, dass er ihr Bruder war. Wenngleich etwas in ihr es vom ersten Augenblick an geahnt hatte, in dem sie ihn in jenem verwüsteten Wagen mitten auf der Valverras gesehen hatte.
Hem hatte sich seither stark verändert. Es lag nicht nur daran, dass er zwei Handspannen gewachsen und mittlerweile um einen Kopf größer als Maerad war. Er war immer dünn gewesen, aber sein Gesicht hatte die weichen Züge der Kindheit verloren, und sein Körper besaß die Langgliedrigkeit eines Fohlens, zugleich linkisch und anmutig. Inzwischen konnte man deutlich den jungen Mann erkennen, der er bald sein würde.
Hem endlich gefunden zu haben erfüllte sie mit einem tiefen Glücksgefühl, das wie glimmende Kohlen in der Mitte ihres Ichs lag und sie wärmte wie ein frierendes Kind. Abgesehen von dieser einen schlichten Gewissheit war alles andere unsicher. Nach der
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