Die Pellinor Saga Bd. 4 - Das Baumlied
aus: Wie könnte sie eine Welt ohne Cadvan ertragen?
Er ergriff ihre Hand und erkundigte sich eindringlich, was sie beunruhigte. Sogleich verblasste die Vision, doch Maerad wusste nicht, wie sie ihm sagen sollte, was sie gesehen hatte; stattdessen umklammerte sie seine Hand, bis ihr Kummer und Grauen sich allmählich legten.
Dann hob sie den Blick von der Erde und starrte auf den Mond, der hoch am Himmel in der schwarzen, frostigen Nacht strahlte. Ihr wurde klar, dass es nicht mehr lange dauern würde - vielleicht noch sieben oder acht Nächte -, bis er voll wäre.
»Ich habe nachgedacht und glaube, dass der wahrscheinlichste Ort für die Suche nach Afinnil das Katenmoor ist«, sagte Cadvan nach längerem Schweigen. »Wenngleich die Stadt sich auch in der Nähe von Rachida befunden haben könnte. Oder in Rachida selbst.«
»Wo immer es sein mag, wir müssen den Ort rasch finden«, erwiderte Maerad. »Wir müssen dorthin, bevor der Mond voll ist. Danach ist es zu spät. Und damit meine ich, nicht nur für uns - für jeden: für Inneil, für ganz Annar …« »Unsere Aussichten sind nicht besonders gut«, meinte Cadvan. »Aber das waren sie ja noch nie. Und trotzdem haben wir es bis hierher geschafft.«
Maerad nickte. »Wie lange würden wir brauchen, um ins Katenmoor zu reiten?«, fragte sie.
»Kommt darauf an. Wenn wir schnell reiten, können wir in fünf Tagen dort sein, aber wo genau Afinnil in jener traurigen, trostlosen Gegend gelegen haben mag, weiß ich nicht.«
»Ardina muss es wissen. Sie war dort, als Nelsor noch lebte …«
»Wir brauchen jede Hilfe, die wir kriegen können«, gab Cadvan zurück. Maerad dachte noch kurz nach, dann stand sie auf und ging zur Zuflucht. Sie kehrte mit ihrer Flöte zurück, stellte sich damit dicht neben Cadvan und begann zu spielen. Die Weise, die sie spielte, war traurig, und die Noten hallten klagend in die Nacht. Diesmal jedoch erschien Ardina nicht.
Schließlich gab Maerad es auf und setzte sich unglücklich mit der Flöte in der verstümmelten Hand. »Warum antwortet sie mir nicht?«, fragte sie.
»Ich weiß es nicht«, sagte Cadvan. »Aber ihr beide, du ebenso wie Hem, habt davon gesprochen, dass die Elidhu das Baumlied fürchten und hassen. Möglicherweise strahlen die Runen, da sie sich nun so dicht beisammen befinden, eine große Macht aus, die verhindert, dass sie kommen kann.«
»Aber wie sollen wir Afinnil ohne ihre Hilfe finden?«
Cadvan erwiderte lange nichts. Dann meinte er: »Wenn wir den Ort finden sollen, werden wir ihn finden. Aber jetzt solltest du schlafen, Maerad, erst recht, wenn wir morgen die Reise antreten wollen.«
»Ich kann nicht schlafen«, entgegnete Maerad. »Ich glaube nicht, dass ichje wieder schlafen werde.«
Cadvan wollte ihr gerade sagen, dass sie schlafen müsse, dass sie nicht in Erwägung ziehen dürfe, die Reise ganz ohne vorherigen Schlaf anzutreten, doch etwas an ihrer Miene, die Spuren eines tiefen, unausgesprochenen Schmerzes, bewogen ihn, die Worte zurückzuhalten. Maerad starrte mit brennenden Augen über die düsteren Hügel und zog die Decke enger um ihren Körper, obwohl sie die Kälte nicht mehr wahrnahm.
Hem träumte von der Schwarzen Armee, die er in Richtung Desor hatte ziehen sehen. In seinem Traum hatten sich die toten Soldaten, die hinter der Armee über die überschwemmten Ebenen verstreut lagen, wieder erhoben und marschierten auf verwesenden Beinen, während ihre Augen ausdruckslos ins Leere starrten. Als er erwachte, erinnerte er sich daran, dass er Augen mit derselben entsetzlichen Leere im wachen Leben gesehen hatte. Sie hatten aus den Gesichtern der Bluthunde gestarrt, der Kindsoldaten der Finsternis, wenn sie im Bann des Schlachtfiebers standen.
Rasch erhob er sich und lief zu einem Bach in der Nähe, wo er sich kaltes Wasser ins Gesicht spritzte, um die Erinnerung wegzuspülen. Er bemühte sich, nicht an seine Zeit bei den Bluthunden zu denken. Manchmal, selbst in den zahlreichen Augenblicken der Dunkelheit, die sein Leben zernarbten, hielt er es für unmöglich, etwas so Schreckliches durchlebt zu haben. Und doch war es kein Traum gewesen.
Jene Wirklichkeit, die Welt von Sjug’hakar Im, marschierte mit der Schwarzen Armee. Es war jene Wirklichkeit, die Baladh und Turbansk zerstört und vielleicht bereits die Mauern von Til Amon überwunden hatte. In Sjug’hakar Im wurden Kinder in verrohte Mörder verwandelt; Schönheit, Freundlichkeit oder Mut wurden dort mit Hohn, Folter und Zerstörung
Weitere Kostenlose Bücher