Die Pellinor Saga Bd. 4 - Das Baumlied
Wiedervereinigung mit Hem war die deutlichste Erinnerung, die sie an den vergangenen Tag hatte, das Aufblitzen der Angst in Salimans Antlitz, nachdem sie die Untoten vernichtet hatte. Cadvan hatte versprochen, sich nicht vor ihr zu fürchten, dennoch konnte nicht einmal er seine Beklommenheit völlig verbergen.
Aber was war ihre Macht? Maerad hatte immer noch das Gefühl, viel zu wenig von den Kräften zu verstehen, die in ihr hausten. Sie war ein Gefäß, sonst nichts. Das Baumlied hatte seinen eigenen Willen, und sie diente ihm lediglich als Werkzeug, zum Guten oder zum Schlechten. Der Gedanke erfüllte sie mit einer schmerzlichen Leere.
Es ist seltsam, dachte sie. Je mächtiger ich werde, desto weniger Entscheidungsfreiheit scheine ich zu haben. Sie hatte das Gefühl, an ein großes Rad gefesselt zu sein, das langsam auf das Singen des Baumlieds zurollte. Keine Kraft auf Erden vermochte dem Drehen des Rads Einhalt zu gebieten; und dennoch wusste sie nicht, was mit der Aufhebung von Nelsors Magie beginnen oder enden würde. Jenseits des Singens selbst lag blanke Ungewissheit. Ich könnte sterben, dachte sie. Hem könnte sterben. Alles, was ich liebe, könnte von der Erde getilgt werden. Cadvan und Saliman wissen das; trotzdem stehen sie mir bei. Sie denken gar nicht daran, sich abzuwenden, obwohl sie nicht wissen, was sie am Ende erwartet. Ihnen muss ihre Angst zugestanden werden, wenn sie in deren Angesicht so tapfer sind. Bin ich selbst so tapfer? Warum fühle ich mich so einsam?
Maerad starrte weiter in die Dunkelheit. Sie hatte kein Recht zu solchem Selbstmitleid. Auch wenn sie sich mitten in der Wildnis befinden mochte, bei ihr waren die Menschen, die sie am meisten auf der Welt liebte. Allerdings fühlte sie sich dadurch irgendwie nur noch schlimmer. Wenn sie versagte, wären ihrer aller Leben verwirkt. Sie dachte an Cadvans Entscheidung, bei ihr zu bleiben, an seine Bereitschaft, alles, woran er glaubte, für sein Vertrauen in sie aufs Spiel zu setzen. Konnte sie einem solchen Vertrauen gerecht werden? Tief in ihrem Inneren fürchtete sie, dass sie ihn im Stich lassen könnte, dass sie schwächer war, als er glaubte.
Schließlich gab sie den Versuch auf, einzuschlafen. Stattdessen wickelte sie ihre Decke um sich und ging hinaus, um sich zu Cadvan zu setzen, der Wache hielt. Er drehte den Kopf zu ihr und lächelte, als sie neben ihm Platz nahm, sagte jedoch nichts. Es war der kälteste Abschnitt der Nacht. Die Wiese glitzerte im Mondlicht vor Raureif, und Cadvans Atem bildete weiße Wölkchen in der Luft.
Maerad starrte über die Hügel und vermeinte, die Landschaft selbst in den Knochen spüren zu können. Während sie in die Dunkelheit spähte, beschlich sie der Eindruck, dass ein Tanz von Schatten sich vor ihr abzuzeichnen begann, ein Tanz von solcher Verschlungenheit und Feinheit, dass sie ihn kaum zu erfassen vermochte. Doch sie wusste, es war der Tanz derselben Echos und Schatten, die in den vergangenen Nächten ihre Träume heimgesucht hatten. Es war ein Tanz der Toten, aber nun sah sie ihn mit ihren wachen Sinnen. Sie hörte ihre Stimmen undeutlich in der frostigen Luft und sah den leichten Strahlenkranz ihrer unzähligen wabernden Schemen. Diesmal fürchtete sie sich nicht; sie wusste, dass dies keine Gespenster waren, keine Verstorbenen, die wiederauferstanden waren, sondern lediglich deren Erinnerung. Die Zeit schien in sich ständig verändernden Schleiern zu verstreichen, einer über dem anderen, die sich so schnell auflösten, wie Maerad sie wahrnahm, und durch diese Schichten konnte sie die schimmernden Spuren derer verfolgen, die einst hier gelebt hatten. Sie sah nicht nur die Schattenmale dessen, was ihre Hände geschaffen oder zerbrochen hatten, sondern auch die Leidenschaften, die sie erfüllt hatten: ihren Hass, ihre Liebe, ihren Kummer, ihre Begierden und Ängste. Jeder Augenblick, in dem die Zeit unter dem starken Eindruck eines Gefühls innegehalten hatte - der Freude eines Kindes über die Heimkehr des Vaters, die Inbrunst zweier Liebender, der Moment eines Todes -, sang leise durch das Geflecht der Erde und erfüllte das Hohle Land mit einer gespenstischen, traurigen Musik.
Maerad stockte der Atem; mit rasendem Herzen drehte sie sich Cadvan zu und schrie auf. In jenem Lidschlag sah sie deutlich den Schädel unter der Haut und die Muskeln seines Gesichts, und sie wusste, dass sie die Zukunft seines Todes erblickte. Ob der Vision breitete sich verheerende Trostlosigkeit in ihr
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