Die Pellinor Saga Bd. 4 - Das Baumlied
aber er unternahm ebenso wenig den Versuch, mit ihr zu sprechen, wie Hem. Der Junge seufzte und ging zu Saliman und Hekibel, um den beiden zu helfen, die gerade begannen, im Windschatten eines niedrigen Felsrückens, der sie ein wenig vor den gnadenlosen Böen schützen würde, das Lager aufzuschlagen. Welches Los sie auch erwartete, sie konnten ruhig noch eine warme Mahlzeit davor genießen.
Der Gesang
Für Maerad war die Reise durch das Katenmoor die schlimmste Folter gewesen, die ihr je widerfahren war. Wo ihre Gefährten flüchtigjene Schemen erspähten, die durch die traurige Gegenwart dieser Landschaft streiften, sah Maerad eine grausam lebendige Vergangenheit. Mit ihrem inneren Auge nahm sie Waldland, Weingärten, Felder und Ortschaften wahr, die längst vom Antlitz der Welt verschwunden waren; ihr präsentierte sich das Katenmoor so wie vor zweitausend Jahren, als es noch die Firman-Ebenen genannt wurde, und der Usk war der Findol gewesen, berühmt für sein klares Wasser, beliebt bei Farbenmachern und Winzern.
Im Verlauf eines einzigen Tages erlebte sie all die Schönheit, die hier bestanden hatte, und deren unwiderrufliche Zerstörung. Sie sah den Sieg des Namenlosen über die Armeen von Lirion und Imbral mit an und das anschließende Blutbad, in dessen Zuge die Dhyllin zu Tausenden niedergestreckt wurden, Männer, Frauen und Kinder, als Sharmas Armee seine Vergeltung an Imbral übte. Sobald sie zwischen blühenden Feldern ein Dorf im Sonnenschein erblickte, wusste sie, dass sie im nächsten Augenblick sehen würde, wie Getreide, Weinranken und Häuser in Flammen aufgingen. Wenn sie ein Kind sah, würde sie auch dessen Tod sehen; wenn sie Menschen erblickte, die sich auf dem Platz eines Weilers oder Dorfes versammelten, wusste sie, dass sie ein unbarmherziges Gemetzel an ihnen miterleben würde.
Die Augenbinde hatte ein wenig geholfen; sie schützte ihre äußere Sicht, allerdings stiegen die Visionen auch vor ihrem inneren Auge auf. Maerad hatte das Gefühl, jeden Tod so zu erleben, als wäre es ihr Vater, ihre Mutter, ihr Kind, ihr Bruder oder ihre Schwester, die getötet wurden, als streckten Sharmas Soldaten ihre engsten Angehörigen, ihre Liebsten nieder; sie fand keinen Weg, sich vor dem Kummer und Grauen jedes Todes zu verstecken, und es geschah immer und immer wieder. Sie sah Grausamkeiten, die jede Vorstellungskraft überstiegen, Gräuel, die sie nicht zu begreifen vermochte, Angst, Verzweiflung und Gram, die sich mit Worten nicht beschreiben ließen. Sie glaubte, den Verstand zu verlieren.
Die Visionen hörten nicht auf, bis sie Afinnil erreichten. Als sie die Augenbinde abnahm, erblickte sie einen Lidschlag lang Afinnils anmutige Türme, die Gärten voll blühender Bäume; dann löste die Stadt sich vor ihren Augen auf, als bestünde sie aus Nebel, und verschwand völlig. Sie stand auf festem Boden, starrte über die steinige Moorlandschaft und erkannte mit unermesslicher Erleichterung, dass sie aus der grauenhaften Vergangenheit entlassen worden war. In jenem Augenblick erschienen ihr das Sumpfgras, die Moose und das Schilf schöner als alles, was sie je gesehen hatte: Jene schlichten Lebewesen boten ihr demütig ihre Farben, Gerüche und Formen an, ohne etwas von ihr zu verlangen, zufrieden damit, zu wachsen, zu leben und zu sterben.
Da wusste sie plötzlich, dass die Toten sie um Gerechtigkeit gebeten hatten, dass ihr die Verbrechen der Vergangenheit gezeigt worden waren, weil sie nach Wiedergutmachung schrien. Während sie über den Sumpf starrte, spürte sie, dass die Klagegesänge des Katenmoors in ihren Körper gedrungen und ihn verändert hatten, und sie begriff, dass sie nie wieder dieselbe sein würde.
Ich kann nicht für Gerechtigkeit sorgen, dachte Maerad. Ich kann diese Untaten nicht rückgängig machen, als wären sie nie geschehen. Rache ist einfach, aber sie wird weder die Türme wiederherstellen noch die gemeuchelten Kinder ins Leben zurückholen. Sie wird weder die Gärten wieder erblühen lassen, noch das Gift aus dem Land saugen. Die Toten verlangen mehr, als ich ihnen geben kann.
Und dennoch, dachte sie, wenn ich den Namenlosen zerstören kann, werde ich es tun.
Lange Zeit stand sie da, spürte das Gewicht der Leier in ihrer Armbeuge und den kalten Wind im Gesicht. Sie musterte die winzigen weißen Blüten einer Kriechpflanze, die im sumpfigen Kessel vor ihr gedieh. Als der Abend hereinbrach, fühlte sie, wie die Schatten sich verdichteten, und sie hörte die
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