Die Pellinor Saga Bd. 4 - Das Baumlied
finden; gleichzeitig ahnte er, dass sie für immer verloren war. Ruckartig erwachte er in fahler Morgendämmerung und erkannte, dass er nach seiner Mutter gesucht hatte. Abgesehen von einem Duft nach Sommerpfirsichen, dunklem Haar, das über sein Gesicht fiel, und der beschützenden Wärme von Armen war ihm nichts von ihr im Gedächtnis geblieben.
Er seufzte und ließ den Blick über seine Gefährten wandern. Eine düstere Vorahnung lastete auf seinem Herzen. Sie alle wirkten geschunden und abgekämpft. Maerad hatte dagesessen und blind nach Norden gestarrt, während die anderen geschlafen hatten. Unter der Binde, die abzunehmen sie sich weigerte, sah ihr Gesicht eingefallen und abgehärmt aus, und auf ihren Wangen prangten tiefrote Flecken. Sie sprach kein Wort, aber Hem sah, dass der Zauber, der durch ihre Haut pulsierte, stärker wurde. Allerdings wirkte er nicht mehr warm wie der Schein von Flammen oder der Sonne im Sommer; das Licht, das in ihr schimmerte, schien kälter, wie ein blaues Feuer, das Hem an Eis denken ließ.
Sie nahmen ein freudloses Frühstück zu sich, das Maerad neuerlich verweigerte; mittlerweile hatte sie seit Tagen nichts mehr gegessen. Allmählich wurde sie erschreckend dünn. Hem versuchte, sie zu überreden, legte ihr sogar Essen in die Hände. Als er sie bedrängte, lächelte sie nur, gab es ihm zurück und schloss seine Finger darum, und Hem erkannte, dass es keinen Sinn hatte, weiter darauf zu beharren. Das Einzige, was sie am Leben hielt, war Medhyl. Cadvan hatte einen großzügigen Vorrat aus Inneil mitgenommen, und abgesehen von Wasser war dies alles, was Maerad zu sich nahm.
»Hem«, sagte Saliman, als sie die erschöpften Pferde zum Weiterreiten vorbereiteten. »Du glaubst also, du weißt, wohin wir müssen?«
Hem nickte. »Da entlang«, erwiderte er.
Saliman musterte ihn. »Und du bist ganz sicher?«, hakte er nach und musste ob Hems Mangel an Zweifeln beinah lächeln.
»Es ist mein Erdgespür«, erklärte Hem. »Dieser Ort erwacht. Ich spüre das so, als müsste ich mich die ganze Zeit übergeben, wie in den Hügeln von Glandugir, aber da ist außerdem dieses -Ziehen. Ähnlich wie bei Maerads Ruf. Es wird stärker, je näher wir unserem Ziel kommen.«
»Ist es weit?«
»Nein. Ich denke, es ist schon sehr nah. Vielleicht erreichen wir es bis zum Anbruch der Nacht.«
»Ich hoffe, du hast recht.« Saliman fuhr sich mit der Hand übers Gesicht, und aus dieser Geste las Hem das volle Ausmaß der Erschöpfung, die Saliman seit Tagen verbarg. Er hatte sich noch nicht vollständig von der weißen Krankheit erholt und war viele Wegstunden über unwirtliches Gelände, durch Angst und Gefahr geritten, wogegen er eigentlich das Bett hüten sollte. Nur sein Wille hielt ihn noch aufrecht, und dieser Wille war aus Eisen. Hem erkannte, dass Saliman dem Ende seiner Kräfte sehr nahe war. Unwillkürlich streckte er die Hand aus und ergriff die des dunkelhäutigen Barden.
Überrascht schaute Saliman auf, sah Hem in die Augen und las darin, was der Junge nicht auszusprechen vermochte. Er lächelte, und kurz glich er wieder dem Saliman, den Hem in Turbansk gekannt hatte, unbesorgt und verschmitzt, freundlich und stark. »Es wird eine Erleichterung sein, zu einem Ende zu gelangen, sei es ein gutes oder ein schlimmes«, meinte er. »Und es könnte ein schlimmes sein. Ich spüre eine mächtige Dunkelheit rings um uns, Hem, und es sind nicht die Totenklagen der verlorenen Seelen des Katenmoors, die meinen Geist so beunruhigen. Ich denke, ich ahne, wer es ist, der uns über den Schauplatz seiner letzten großen Schlacht verfolgt, und ich fürchte, dass wir gegen einen solchen Feind nicht bestehen können, wenn er tatsächlich hier ist. Falls diese Reise schlecht endet, hoffe ich, du weißt, wie sehr ich dich liebe.«
Hem nickte, war vor Gefühlen außerstande zu sprechen und wandte sich ab, um auf Keru zu steigen. Auch er glaubte, den Willen hinter dem Schatten zu erahnen, der auf seinen Geist drückte, doch allein daran zu denken fühlte sich unheilvoll an. Tagsüber durch das Katenmoor zu reiten war kaum besser als nachts: Zwar konnten sie sehen, wohin sie reisten, aber es war ein düsterer, freudloser Ort, der bei Tageslicht genauso verlassen wirkte. Maerad saß hinter Cadvan auf Darsor und schwieg. Nach wie vor mit der Augenbinde um den Kopf, starrte sie blind über das graue Gelände, das der Frühling kaum berührt hatte, und bewegte manchmal die Lippen, als spräche sie, aber sogar
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