Die Pelzhändlerin (1. Teil)
Vorwürfe sie nicht mehr erreichten, ließ sie ihren Schmerz heraus.
Als sie sich allmählich beruhigte, fragte sie: «Wo ist mein Kind jetzt?»
Kopper lächelte. «Im Himmel, denke ich. Als Engel, der über Euch wacht.»
Er schwieg einen Moment und strich Sibylla über das verschwitzte Haar. «Ihr habt Fieber, müsst Euch ausruhen.»
Kopper stand auf und schickte sich an zu gehen.
«Habt Ihr mein Kind auf die Welt geholt?», fragte sie verlegen. Hatte etwa ein fremder Mann ihren Schoß gesehen?
«Eine Hebamme war dabei», antwortete er knapp. «Schlaft jetzt!»
Dann verließ er das Zimmer. Jochen kam nicht wieder.
Am Nachmittag kam Martha, um nach ihr zu sehen.
«Sollen die Leute reden, was sie wollen», sagte sie und flößte Sibylla ein wenig Hühnerbrühe ein. «Fest steht: Ohne Isaak Kopper wärest du jetzt nicht mehr am Leben.»
Sie machte eine Pause, ehe sie weitersprach: «Natürlich wäre es mir trotzdem lieber, er würde nicht mehr herkommen.»
«Warum?», fragte Sibylla. «Was ist mit Isaak Kopper?»
«Ach», sagte Martha und bereute ihre letzten Worte.
«Man sagt, Kopper sei zwar ein guter Arzt, ein sehr guter sogar, der seine Kunst an einer Universität in Italien gelernt hat, doch dass er jetzt in Frankfurt die Leichen vom städtischen Galgen herunterkauft, um sie aufzuschneiden und das Innenleben zu studieren, lässt die Leute glauben, er sei mit dem Teufel im Bunde.»
«Glaubst du das auch?», fragte Sibylla.
Martha sah sie an. «Er ist nicht mehr und nicht weniger mit dem Teufel im Bunde als du und ich», erwiderte sie und strich Sibylla über die Wange.
Teil 2
Kapitel 8
Die Septembersonne hatte ein rotgoldenes Tuch über Frankfurt gebreitet. Blätter in allen Farben leuchteten um die Wette, der Himmel war strahlend blau, und auf den Gassen und Straßen der Stadt herrschte ein fröhliches Treiben.
Rund um den Römerberg hatten fahrende Händler ihre Buden aufgebaut und boten lautstark Töpfe, Schüsseln, Pfannen, Messer jeder Art und andere Waren für den Alltag an.
Gaukler zeigten ihre Kunststücke, Spaßmacher schrien derbe Scherzworte durch die Menge, Feuerschlucker und Tänzerinnen zogen das Publikum in ihren Bann, Beutelschneider und Taschendiebe wurden von den Wachmannen an den Ohren über das Pflaster zum Halseisen am Römer geschleift, um dort sofort ihre Strafe zu erhalten. Ein Lärmgemisch aus Rufen, Schreien, Lachen und Singen zog vom Römer bis in die angrenzenden Gassen. Kurz: Es war Dippemess in Frankfurt, Jahrmarkt und Haushaltswarenmesse in einem.
Sibylla schlenderte an den Ständen entlang, betrachtete die ausgelegten Waren, kaufte da ein wenig Gewürz, dort ein paar hölzerne Knöpfe und betrachtete einen kleinen Jungen, der munter plappernd seinen Pelzbären in der Hand hielt. Zweieinhalb Jahre wäre mein Sohn jetzt, dachte Sibylla und seufzte.
Plötzlich schien es, als würde sich eine dunkle Wolke vor die Sonne schieben. Das Lachen ringsum erstarb, die Menschen blieben stehen und sahen sich unsicher um.
Ein Flagellantenzug, angeführt von einem Trommler, der einen düsteren Takt schlug, hielt Einzug.
Sibylla erschrak, als sie die Flagellanten sah: Das Haar der Männer und Frauen war voller Asche, ihre sackartigen Kleider waren zerrissen und blutverschmiert, ihre Füße bloß. In den Händen trugen sie genagelte Holzkeulen, mit denen sie sich bis aufs Blut geißelten. In ihren Augen funkelte dunkle Leidenschaft. Ihre Münder waren verzerrt, die Körper bis auf die Knochen abgemagert. Eine der Frauen riß sich büschelweise die Haare aus, ein Mann zeigte Kreuzigungsmale in seinen Handflächen. Dicht über den Köpfen der Flagellanten flogen zwei Krähen und unterstrichen mit ihrem diabolischen Gekrächze das Gespenstische, Unheilvolle der Szenerie.
Sie stellten sich in der Mitte des Platzes auf und sangen, so laut sie konnten: «Halleluja, das Ende der Welt ist da. Halleluja, Gott ist unser Retter.»
Immer wieder sangen sie diesen Vers, immer lauter, sodass die Menschen auf dem Römerberg schließlich stehen blieben und die Flagellanten anstarrten.
Auch Sibylla konnte ihren Blick nicht von der Gruppe wenden. Schließlich verstummte der apokalyptische Gesang, ein Mann mit einer Dornenkrone auf dem Kopf trat hervor und brüllte die Messebesucher an:
«Sieben Engel gießen ihre schrecklichen Schalen über die Erde. Nach der ersten entstehen böse und schlimme Geschwüre an Mensch und Tier, mit der zweiten wird Wasser zu Blut, große Hitze, die die Menschen
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