Die Pelzhändlerin (1. Teil)
lächelte Sibylla freundlich an. Eine warme Welle von Zuneigung erfasste Sibylla. «Froh bin ich auch, dass ich Euch getroffen habe, Sibylla. Werdet Ihr mich einmal besuchen kommen?»
«Gern», erwiderte Sibylla und erfuhr, dass Lucia mehrere Räume im Hause des Arztes Kopper bewohnte.
In diesem Augenblick zog der Flagellantenzug an ihnen vorbei, und Sibylla wagte es nicht, die neue Bekannte auf die Gerüchte, die über Kopper in Umlauf waren, anzusprechen. Eine Menschenmenge folgte den Flagellanten, die, Beschwörungen und Drohungen ausstoßend, hinunter zum Main gingen. Die beiden Frauen schauten ihnen nach, und Lucia legte den Arm um Sibylla, als sie deren erneutes Zittern bemerkte.
Als die Menge vorüber war, fragte Sibylla leise:
«Glaubt Ihr an den bevorstehenden Weltuntergang?»
Lucia lachte und antwortete mit einer Gegenfrage: «Wenn Gott die Welt untergehen lässt, über wen soll er dann herrschen? Gott braucht die Menschen, um Gott zu sein. Gibt es sie nicht mehr, gibt es auch Gott nicht mehr.»
Sibylla erschrak. «So könnt Ihr nicht reden», rief sie aus. «Ihr lästert Gott damit.»
Doch Lucia ließ sich nicht einschüchtern. «Weil ich die Wahrheit sage? Die Wahrheit schmerzt meist, aber lästern kann man mit ihr nicht.»
«Seid Ihr keine Christin?», fragte Sibylla und rückte unwillkürlich ein kleines Stück zur Seite.
«Wenn ein Christ jemand ist, der sich an die zehn Gebote hält, so bin ich wahrlich keiner. Die zehn Gebote sind für mich schwachen Menschen zu schwer einzuhalten.»
Sie beugte sich zu ihr und raunte ihr ins Ohr. «Ich habe noch keinen einzigen Tag gelebt, ohne gegen wenigstens eines der Gebote zu verstoßen. Warum hat Gott dem Menschen Gebote gegeben, die er niemals einhalten kann? Wem dienen sie? Gott oder der Kirche? Überlegt selbst, Sibylla.» Dann lachte sie.
Sibylla schwieg. Was Lucia da gesagt hatte, klang gefährlich, sehr gefährlich. Ihre Gedanken waren so sündig wie die des Teufels. Kein Wunder, dass sie sich in Koppers Haus wohl fühlte. Auch von ihm sagten die Leute, er sei mit dem Teufel im Bunde, weil er Leichen auseinander nahm, um, wie er sagte, das Innenleben der Menschen zu studieren und sie dadurch besser heilen zu können. Aber warum klangen ihre Worte dann so einleuchtend? Hatte sie vielleicht sogar Recht mit dem, was sie sagte?
«Gott hat mir einen Verstand gegeben, damit ich ihn benutze. Auch meine Gedanken kommen von Gott. Wie sollen sie da sündig sein?»
Damit stand Lucia auf und glättete die Falten ihres Kleides.
«Ich muss nach Hause, Sibylla. Es wartet Arbeit auf mich. Aber was haltet Ihr davon, in den nächsten Tagen auf einen Besuch zu mir zu kommen? Ich würde mich sehr freuen.»
«Sehr gern», wiederholte Sibylla und reichte der neuen Freundin zum Abschied die Hand. Dann drehte Lucia sich um und ging zurück in Richtung Römer, verschwand in einer kleinen Seitengasse.
Verblüfft schaute Sibylla ihr nach. Sie hätte sich gern noch weiter mit Lucia unterhalten, die so anders war als ihre Freundin Christine. So viel interessanter, lebendiger und anregender. Sibylla erhob sich und beschloss auf dem Heimweg, Lucia auf jeden Fall zu besuchen.
Schon wenige Tage später ging sie zu dem Haus in der Schäfergasse, das, wie sie wusste, Kopper gehörte. Es war ein grauer Steinbau mit grünen Holzläden vor den Fenstern und einer roten Haustür mit einem Klopfer aus Messing in Form einer Schlange. Die Läden, so sagten die Leute, seien die meiste Zeit geschlossen. Auch am Tag. Doch manchmal, wenn der Abend hereinbrach, waren sie geöffnet, und so mancher wollte Schreie wie von Gemarterten daraus gehört haben. Die Magd, die den Haushalt besorgte, war eine Frau mit narbigem Gesicht und einer Hakennase, von der es hieß, sie spräche mit niemandem ein Wort.
Ihr Herz pochte, doch Sibylla wusste nicht, ob es aus Freude über das Wiedersehen mit Lucia oder aus Furcht vor einer Begegnung mit Isaak Kopper geschah.
Langsam hob sie den Klopfer, doch bevor er das Holz erreichte, öffnete sich die Tür, und die Magd stand vor ihr. Wie einen Geist starrte sie Sibylla an, dann bekreuzigte sie sich hastig.
«Zu Lucia möchte ich», brachte Sibylla gepresst und verwundert über das seltsame Benehmen der Magd hervor und sah sich um, ob sie irgendwo etwas erspähen könnte, das mit Koppers Arbeit zu tun hatte. Doch sie sah nur ein Haus, das mit der Gediegenheit großbürgerlichen Geschmacks eingerichtet war. Verdächtige Geräusche oder gar Schreie
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