Die Perlenzüchterin
Sie ist jung, gehört zu einer anderen Generation, lebt in anderen Zeiten. Wenn sie zurück nach Sydney fliegt, schiebt sie all das vielleicht an den Rand ihres Lebens. Aber es ist da, und sie wird sich damit befassen, wenn sie dazu bereit ist.«
»Ich fürchte, sie wird sich jedes Mal damit befassen müssen, wenn sie hierher kommt. Ich ziehe nämlich nicht mehr weg«, seufzte Lily.
»Das freut mich«, sagte Palmer sanft.
Lily sah ihn an, und mit einem Mal wurde ihr die unwiderstehliche Wirkung seiner blauen Augen und seines breiten Mundes, seines hageren Gesichts, das ihn wie einen zerknitterten Filmstar aussehen ließ, voll bewusst. Meist war er lässig gekleidet und unrasiert, sein Lederhut und eine Sonnenbrille verbargen seine Züge, sodass sie ganz vergessen hatte, wie gut er aussah. Etwas Grau an den Schläfen, einige interessante Fältchen, ein schlanker Körper – vermutlich war die Hälfte seiner Studentinnen in ihn verliebt, dachte sie. »Und Sie, was haben Sie für Pläne?«
Er wandte den Blick ab von Lilys grün gesprenkelten Augen und ihrem anmutigen Gesicht und dachte, dass ein Mann sich leicht in diesen weichen dunklen Haaren verfangen konnte. »Ich werde ein Weilchen in der Gegend bleiben und meine langsame, gewissenhafte Forschungsarbeit vorantreiben.« Er grinste.
»Gut.« Sie lächelte zurück, und wie von ungefähr trafen sich ihre Lippen, zunächst tastend, dann in einem hungrigen, verzehrenden Kuss, der sie beide überraschte.
Als sie einander losließen, schüttelte Palmer den Kopf. Er wirkte mehr als verdutzt. »Ich hätte nicht gedacht, dass ich mich noch einmal wie ein leidenschaftlicher, liebestrunkener Schuljunge fühlen könnte.«
Lily blickte ihn an. Nahm seinen Anblick in sich auf, fragte sich, warum sie ihn nicht schon früher in diesem romantischen Licht gesehen hatte. »Ted, ›liebestrunken‹ ist ein gutes Wort. Ich wusste nicht, wie ich dich einordnen sollte, als ich dich kennen lernte …«
»Ich habe dich irritiert«, sagte er ruhig.
»Ja. Aber mit der Zeit hat deine Persönlichkeit mich erobert. Es macht viel Spaß, und das Leben ist ein bisschen interessanter, wenn du da bist. Vor allem aber bist du ein guter Freund geworden.« Sie blickte zu Boden, und Palmer beugte sich zu ihr und küsste sie nochmals zärtlich. »Wird das hier eine schöne Freundschaft ruinieren?«, fragte sie endlich.
»Nur, wenn wir das zulassen! Und das kann ich mir nicht vorstellen.« Er zog sie enger an sich. Mit einem Mal fühlte sie sich sicher und geschützt und sehr ruhig. Der Druck und die Verwirrung fielen langsam von ihr ab. Palmer spürte, wie ihr Körper sich entspannte.
»Bleiben wir bitte einen Moment hier sitzen. Du hast mir durch eine schwere Zeit hindurchgeholfen. Biddy, die Familie, das Abenteuer der Perlenfarm. Warum habe ich das getan? Warum habe ich nicht einfach meine Ersparnisse sicher investiert und blättere jetzt die Reiseprospekte durch?«
»Weil du dich schon nach einer Woche nicht mehr leiden könntest. Du bist eine energiegeladene Frau, die gerade erst die kreative Phase ihres Lebens eingeläutet hat. Du warst bereit, deine gesamte Erfahrung und Lebensweisheit einzusetzen und dich kopfüber in etwas Neues zu stürzen.«
»Vorhin hatte ich einen schwachen Moment. Ich konnte nicht fassen, was ich hier tue. Tim ist nicht da, Dave wirkt plötzlich, als wäre er nicht von dieser Welt, und dann verliere ich auch noch Biddy. Und mache mir Sorgen um meine Tochter.«
»Ja. Sie ist auch meine Freundin«, sagte Palmer ein wenig besorgt. »Und das könnte jetzt zum Problem werden.«
Lily biss sich auf die Lippe. Ted hatte Recht – sie verliebte sich gerade in einen engen Freund ihrer Tochter! »Wie sieht Sami dich, was bist du wirklich für sie, Ted? Sie hat so heftig reagiert, als sie uns nur miteinander reden sah, was wird … das zwischen uns bei ihr auslösen?«
»Eifersucht, Wut, Verletztheit vermutlich. Sie möchte der Mittelpunkt des Universums sein. Von mir möchte sie, dass ich ihre Bedürfnisse befriedige, und zwar als Akademiker und als Freund. Vielleicht nicht ganz als Vaterersatz, aber doch als reife weise Eule. Kinder erarbeiten sich ihre Beziehungen gern auf eigene Faust.«
Lily nickte zustimmend. »In den letzten zehn Jahren war es nicht leicht, den Durchblick zu behalten, als sie immer selbständiger wurde. Unsere Familie besteht ja nur aus uns zweien, und unsere Beziehung ist immer mehr zu einem Konkurrenzkampf geworden. Sie ist nicht mehr das
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