Die Perlenzüchterin
eine Einheimische fühle.«
»Geht mir genauso«, sagte er und hockte sich auf die oberste Stufe.
»Sie leben nicht hier?«
»Das ist das Haus von meinem Onkel. Ich lebe in Melbourne und nehme gerade meinen Jahresurlaub – angeln, faulenzen, mich herumtreiben.«
»Wer ist denn Ihr Onkel?«
»Tamerah. Das Haus hat seinem Großvater gehört. Oder seinem Chef, so genau weiß ich das nicht mehr. Ist schon lange her. Aber alles ganz legal«, fügte er rasch hinzu, als wollte er jeden Verdacht, er könne ein Hausbesetzer sein, zerstreuen.
»Diese Gegend ist getränkt mit Geschichte«, sagte Lily beiläufig. »Meine Familie hat auch Verbindungen hierher. Haben Sie von Kapitän Tyndall gehört?«
»Nicht, dass ich wüsste. Ich bin in Melbourne aufgewachsen. Bin da unten bei der Polizei. Ich mache hier Ferien, seit ich ein kleines Kind war. Als mein Onkel starb, hat er mir das alles hinterlassen.«
»Es ist schön, auf ein Haus zu stoßen, das seit damals nicht verändert worden ist. Es hat so viel …«, Lily suchte nach dem passenden Wort, »Charme.« Sofort ging ihr auf, wie eigenartig und unzureichend die Bezeichnung für dieses besondere kleine Haus war. Um davon abzulenken, fügte sie hinzu: »Historische Bedeutung hat es sicher auch.«
»Dazu kann ich nichts sagen.« Er lachte in sich hinein. »Möchten Sie eine Tasse Tee? Kommen Sie doch rein. Im Flur hängen ein paar alte Bilder. Die können Sie sich ansehen, wenn Sie was für Geschichte übrig haben. Ich heiße übrigens Ross Tamerah.«
»Herzlich gerne, vielen Dank. Ich bin Lily Barton.« Sie betrat die ausgebleichte, verwitterte Veranda. Das Haus musste seit mindestens siebzig oder achtzig Jahren hier stehen. Es war einfach geschnitten: Die Zimmer gingen von einem Flur ab, der von der vorderen zur hinteren Veranda verlief. Es gab ein Schlafzimmer, eine kleine Küche mit einem kleinen Esstisch, ein Wohnzimmer und ein Bad, in dem auch Waschbottiche und eine alte Waschmaschine standen.
Ross sah Lilys neugierige Blicke. »Es ist ziemlich schlicht. Wieso soll ich es aufpeppen, wenn es monatelang leer steht? Ich wundere mich jedes Mal, dass keine Vandalen einziehen. Ein-, zweimal haben Leute den Grill benutzt. Dagegen habe ich nichts. Die Bucht direkt vor der Tür ist ein gutes Angelgewässer.«
»Sie bringen also einen frischen Fisch zurück und legen ihn gleich auf den Grill?«
»Yep. Dann sitze ich hier mit einem kühlen Bierchen und beobachte den Sonnenuntergang. Besser als der Cable Beach.« Er lachte, und Lily fiel in das Lachen ein.
»Eindeutig vier Sterne«, bekräftigte sie heiter.
Ross stellte Tassen bereit und goss heißes Wasser in eine angeschlagene Emaille-Teekanne. »Mich haut das einfach um. Meine Frau, na ja, meine Ex-Frau, fand es hier grässlich. Zu primitiv. Wenn ich kann, nehme ich aber meinen Sohn mit.«
»Ich wette, dem gefällt es hier.«
»Da können Sie Gift drauf nehmen. Genau wie mir früher, wenn Onkel Jamal mich mitnahm. Ist eine schöne Familientradition.«
Lily besah sich die Fotos im Flur. Teilweise waren sie mit modrigen braunen Flecken bedeckt. Sie erkannte aber typische Szenen aus dem alten Broome: Logger, Mannschaften, Schuppen und Muschelhaufen. Auf einem Foto stand ein asiatisches Paar in traditioneller Kleidung vor dem Continental. Ein anderes zeigte dasselbe Paar – diesmal hielt die Frau einen Säugling –, wie es sehr förmlich für ein Studioporträt posierte.
»Die sind großartig. Solche Fotos sollten sie hier in den Motelzimmern aufhängen, statt der ewig gleichen Drucke von Paradiesvögeln und Hibiskusblüten.«
»Ja. Vermutlich sollte ich was unternehmen, sie sehen ein bisschen unappetitlich aus. Es wäre eine Schande, wenn sie einfach so verblassen, schätze ich. Ich weiß nicht mal, wer die Leute auf den Fotos sind.«
»Vielleicht geben Sie sie der Historischen Gesellschaft? Sie würden die Aufzeichnungen über die Stadt gut ergänzen. Wissen Ihre Eltern vielleicht, wer die Leute auf den Fotos sind?«
»Nur meine Mutter lebt noch. Ich frage sie am besten mal. Tee ist fertig! Nehmen Sie Milch? Zucker?«
»Nur Milch. Danke.« Lily wollte gerade wieder in die Küche gehen, da erregte das letzte Foto ihre Aufmerksamkeit. »Wow! Darf ich mir das hier mal näher ansehen?« Das gerahmte Zeitungsfoto zeigte einen Perlenbaron und seine Mannschaft, die vor dem Hintergrund eines Schoners am Ufer standen. »Das ist mein Urgroßvater, Kapitän Tyndall, den ich vorhin erwähnt habe.« Sie las die
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