Die Perserinnen - Babylon 323
verlegen
ihren Schleier. Gefühlsausbrüche waren normalerweise nicht ihr Fall, und obwohl
sie Paruschjati so nahestand wie kaum jemand sonst, nicht einmal ihre nächsten
Verwandten, achtete sie in der Öffentlichkeit immer auf Distanz. Ihr Gesicht,
das schon seit Langem alt und verbraucht ausgesehen hatte, wirkte nun bis zum
Äußersten erschöpft. Paruschjati legte beschützend den Arm um sie und ihre
Nichte, und sie suchten sich eine ruhigere Ecke im Innenhof des Tempels.
Faiduma schlug sich die Hände vor das Gesicht und
schluchzte. „Es war grauenhaft! Nicht lange nachdem du weg warst, kamen sie.
Aspamithra gelang es gerade noch, die Türen zu verrammeln, aber sie haben sie
aufgebrochen. Sie haben jeden umgebracht, den sie erwischt haben, die anderen
sind geflohen, so wie Mannuja und ich. Weißt du, was mit meinen Eltern
geschehen ist?“
Paruschjati drückte das Mädchen noch fester an sich. „Es tut
mir leid“, flüsterte sie. „Sie sind tot.“
Faiduma brach in herzzerreißendes Schluchzen aus. Einige der
Gläubigen im Innenhof warfen ihr Blicke voller Mitgefühl zu, doch niemand kam
näher oder stellte Fragen. Es dauerte lange, bis das Schluchzen nachließ.
„Ich weiß nur noch, wie Mama in mein Zimmer kam und mich
wachrüttelte. Mannuja war bei ihr, und Mama sagte ihr, sie solle mich
hinausschaffen, und wir sollten rennen, so schnell wir könnten, und nicht
zurückschauen. Ich klammerte mich an Mama, aber sie machte sich los und schob
mich zur Hintertür hinaus. Wir sind einfach nur gerannt und gerannt …“
Mannuja setzte den Bericht fort. „Frataguna hätte sich
ebenfalls retten können, doch sie warf sich deinen kostbarsten Schleier über.
Ihr beide saht euch immer so ähnlich, deshalb hoffte sie, die Angreifer würden
sie in dem schlechten Licht und dem Durcheinander für dich halten.“
Das also war der Grund, warum Frataguna in Paruschjatis
Schlafzimmer gestorben war. Andernfalls wäre den Angreifern schnell klar
geworden, dass ihr eigentliches Ziel nicht hier war. Dann hätten sie einfach
nur in aller Ruhe abgewartet, bis Paruschjati zurückkehrte und in die Falle
lief. Fratagunas Opfer hatte ihr das Leben gerettet.
„Wir haben die Nacht in einem Verschlag im Palast
verbracht“, fuhr Mannuja fort. „Am Morgen suchten wir im Tempel Zuflucht. Ich
wusste, du würdest uns hier suchen.“
Paruschjati nahm ihren Arm. „Übrigens hast du dich nicht in
Ischna getäuscht – sie war unschuldig, Artaschura war der Verräter. Ich
fürchte, er hat auch Ischna auf dem Gewissen.“
Gemeinsam überlegten sie, was sie nun tun sollten. Mannuja
plädierte dafür, im Tempel um Asyl zu bitten, doch Paruschjati dachte an
Meleagros’ trauriges Schicksal und lehnte ab. „Wir müssen zu Apama.“
Die alte Frau verzog das Gesicht, sie hatte Apama nie
gemocht. „Ich vertraue ihr nicht.“
„Ich auch nicht, aber es ist die einzige Möglichkeit, die
mir geblieben ist. Niemand weiß, dass ich mit Apama in Verbindung stehe,
niemand wird mich bei ihr vermuten. Also wird uns bei ihrem Haus auch niemand
auflauern.“
Unglücklicherweise hatte keine von ihnen eine Vorstellung,
wo sie Apamas Haus suchen sollten. Bei Paruschjatis erstem Besuch – war das
erst ein paar Tage her? – hatte sie kaum auf den Weg geachtet. Sie erinnerte
sich nur, dass er sie die Prozessionsstraße hinunter und an den Mauern des
Alten Palasts und der Tempelbezirke entlanggeführt hatte, ehe sie links in das
Gewirr der Straßen abgebogen waren. Damals war sie, wie immer, wenn sie
außerhalb des Palasts unterwegs war, in ihrem Wagen gefahren und von einer
bewaffneten Eskorte begleitet worden. Das war etwas ganz anderes, als sich zu
Fuß durch das scheinbar endlose Häusermeer Babylons zu kämpfen.
Paruschjati erinnerte sich, dass Apamas Haus in der Nähe
eines Tempels lag, aber sie wusste nicht, welcher Göttin er geweiht war. Das
uralte Wandrelief, das sie in den Tiefen der Fundamente gesehen hatte, sagte
ihr nichts. Stellte es Ischtar dar, die mächtige Göttin der Liebe und des
Krieges? Ihre Schwester Ereschkigal, die Herrin der Unterwelt? Oder eine andere
einheimische Göttin? Faiduma, die als Einzige von ihnen Babylonisch sprach,
fragte nach dem Weg, doch die Heiligtümer, zu denen man sie schickte, waren
immer die falschen.
Von den breiteren Straßen gelangten sie in schmale Gassen
und verwinkelte Höfe. Sie überquerten Kanäle, die das Stadtgebiet überall
durchzogen, Palmenhaine und Gärten und landeten wieder in Gassen,
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