Die Perserinnen - Babylon 323
erfahren hatten. Damals war es ihr vorgekommen,
als ob der Himmel eingestürzt sei, doch im Nachhinein musste sie sich
eingestehen, dass niemand, auch sie selbst nicht, an diesem Tag auch nur
annähernd die wahre Tragweite der Ereignisse erfasst hatte.
Alle waren wie erstarrt gewesen. Niemand hatte eine
Vorstellung gehabt, wie es weitergehen sollte, und so blieben sie einfach in
Damaskos und lebten weiter ihr Leben, als sei nichts geschehen. Doch als
gemeldet wurde, feindliche Truppen befänden sich im Anmarsch auf die Stadt,
erwachte der Hofstaat schlagartig aus seiner Erstarrung und brach in umso
hektischere Aktivität aus. In aller Eile suchte jeder seine Habe zusammen und
machte sich zum Aufbruch bereit.
Am nächsten Morgen in aller Frühe war der Hof der Zitadelle
von Gespannen und Reittieren überfüllt. Frauen und Kinder stiegen auf die
Wagen, Diener luden das Gepäck auf. Dann setzte sich der Zug in Bewegung, durch
das Festungstor hinaus auf die Straßen der Stadt, wo Chaos herrschte. Die
prunkvollen Reisewagen vornehmer Damen fuhren zwischen Ochsengespannen und
Eselskarren, dazwischen ritten Dienerinnen, Eunuchen und andere Bedienstete.
Soldaten waren nur vereinzelt zu sehen, obwohl sie den Zug eigentlich
eskortieren sollten. Immer mehr Menschen quollen aus den Gassen rechts und
links von der Hauptstraße und schlossen sich an. Die Glücklicheren hatten Platz
auf einem der Wagen gefunden, die anderen trotteten daneben her, darunter viele
Frauen mit Kindern an der Hand, ihre spärliche Habe auf dem Rücken. Ein
endloser Zug Verzweifelter wälzte sich durch die Straßen und dann zum Stadttor
hinaus.
In der Nacht zuvor hatte es geschneit, und eine dünne Decke
aus Reif und Pulverschnee überzog das bräunlich-kahle Land. Es war bitterkalt.
Drinnen im Wagen war es einigermaßen geschützt, doch wenn Paruschjati die
Vorhänge zur Seite schob und hinaussah, konnte sie den Atem der Zugtiere wie
Dampf in die Höhe steigen sehen, ebenso den der Menschen, die neben ihnen
herliefen, viele mehr schlecht als recht in Decken gehüllt.
Als die Sonne höherstieg, begann der Schnee zu schmelzen und
verwandelte die Straße in eine schlammige Rutschbahn, mit Löchern, in denen oft
knietief das Wasser stand. Schon blieben die ersten zurück. Viele ließen ihr
Gepäck am Straßenrand liegen, um nicht den Anschluss zu verlieren. Hin und
wieder blieb ein Wagen in einem der Schlammlöcher stecken, und der Strom der
Verzweifelten floss um ihn herum. Paruschjati sah einen Reisewagen, der sich
halb zur Seite geneigt hatte. Die Insassen bestiegen gerade die Maultiere, die
man von der Deichsel losgeschirrt hatte, oder ließen sich von Reitern mit aufs
Pferd nehmen. Unterdessen machten sich Elendsgestalten über den Wagen her,
rissen Decken, Kleider und Vorhänge an sich und wickelten sich darin ein zum
Schutz gegen die Kälte. Kostbare Stoffe, die einst vornehme Damen geschmückt
hatten, schleiften durch den Schlamm.
Gegen Mittag kam der Zug endgültig zum Stehen. Damaspia ließ
die Vorhänge zur Seite ziehen und blickte hinaus. Menschen kamen ihnen
entgegen, mit Schlamm verkrustet und durchnässt. Vereinzelt waren berittene
Soldaten unter ihnen. Damaspia winkte einen davon zum Wagen. Der Mann lenkte
sein Pferd heran, beugte sich über die Kruppe und sah zu ihnen herein.
„Was ist los?“, fragte Damaspia. „Warum geht es nicht
weiter?“
„Dort vorn ist der Feind!“, schrie der Mann und zeigt die
Straße hinauf. „Sie kommen über die Berge. Ihr müsst umkehren, Banuka, und
versuchen, zur Stadt zurückzukommen.“
Es dauerte lange, bis der Wagenlenker in Schlamm und
Gedränge sein Gefährt gewendet hatte. Damaspia ließ Kissen und Gepäck
hinauswerfen, damit es leichter wurde, dennoch kamen sie nur langsam voran.
Rechts und links vom Weg lag weggeworfenes Gepäck im Dreck, darunter sogar
Schmuck und silbernes Geschirr – niemand kümmerte sich darum. Viele Wagen
steckten fest oder waren aufgegeben worden. Als sie an einer Stelle
vorüberkamen, an der etwas Buntes, Glänzendes am Straßenrand lag, beugte
Paruschjati sich aus dem Wagen. Lederplanen in leuchtenden Farben blähten sich
im Wind, darunter wurden mit Silber beschlagene Stangen sichtbar. Ein
Prunkzelt, von seinen Besitzern zurückgelassen.
Und dann sah sie sie.
Sie kamen in langer Kette den Hügel herunter, Reiter mit
Helmen, Brustpanzern aus Metall und purpurfarbenen Umhängen. Krieger, aber keine
von ihren eigenen. Die wenigen persischen Reiter, die den Zug
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