Die Perserinnen - Babylon 323
Flucht. Sein Heer war in alle Winde zerstreut, viele Tausende
seiner Krieger lagen tot auf dem Schlachtfeld. Und dann das Unfassbare, das
Unvorstellbare, das noch nie seit Menschengedenken geschehen war: Die Familie
des Großkönigs war dem Feind in die Hände gefallen!
Amaschtri schrie auf. „Statira! Drupati! Sie werden sie
umbringen!“ Sie schlug weinend die Hände vor das Gesicht, sank zu Boden und
krümmte sich dort zusammen.
Paruschjati kniete sich neben sie und versuchte, sie zu
trösten. „Hab keine Angst, sie werden ihnen nichts tun.“
„Sie werden sie umbringen!“, klagte Amaschtri. „Aber vorher
werden sie noch … Sie werden ihnen die Kleider vom Leib reißen und sie … “
„Hör auf!“, schrie Paruschjati. „Das werden sie nicht! Sie
wissen, dass der Großkönig dann schreckliche Vergeltung üben würde.“
„Der Großkönig?“ Amaschtri nahm die Hände vom Gesicht. Ihr
Gesicht war tränenüberströmt. „Der Großkönig ist besiegt, er kann ihnen nicht
helfen. Die Jauna sind blutrünstige Barbaren! Warum sollten sie die Familie
ihres besiegten Feindes mit Achtung behandeln?“
„Der Großkönig lebt! Er hat nur eine Schlacht verloren. Er
wird ein neues Heer aufstellen und die Jauna endgültig vertreiben. Und
Barschina sagt, die Jauna sind keine Barbaren, sie sind Menschen wie wir.“
„Umso schlimmer.“ Amaschtris Mund verzerrte sich zu einem
zynischen Grinsen. „Gerade du müsstest doch wissen, was das bedeutet!“
Und wieder stand Paruschjati das alte Bild vor den Augen:
die Halle voller verängstigter Menschen, die Unsterblichen, die die Tür
aufbrechen; der Eindringling, der über Bagapatas Leiche steigt und ihre Mutter
anstarrt und dann Frataguna und schließlich sie selbst. Wieder sah sie den
gierigen Ausdruck in seinen Augen und sein gemeines Grinsen.
„Sie werden ihnen nichts tun!“, brüllte Paruschjati und
schüttelte Amaschtri, dass ihr Kopf hin und her schlug. „Nichts! Hörst du?“
Amaschtri antwortete nicht mehr, sie war unerreichbar in
ihrem Schmerz. Immer wieder erschütterte Schluchzen ihren gebeugten Rücken.
Während Paruschjati mit den Händen beruhigend ihr Rückgrat auf und ab strich,
dachte sie an Statira und Drupati, an den kleinen Vahauka und an die
Königinmutter Sissingambri. Was würden die Feinde ihnen antun? Und der
wunderschönen Statira, der Gemahlin des Großkönigs, von der es hieß, sie sei
die schönste Frau der Welt?
Doch etwas anderes verstörte sie sogar noch mehr: Der
Großkönig war nicht nur besiegt worden, er war geflohen! Sie hatte immer
geglaubt – nein, gewusst! –, dass er ein tapferer und mutiger Mann war, ein
starker König, der sie und ihre Familie beschützen würde. Nun konnte
Darajavahusch nicht einmal seine eigene Familie schützen. Instinktiv wusste
Paruschjati, dass er nicht nur einfach eine Schlacht verloren hatte. Angst
griff mit eiserner Hand in ihre Brust und presste ihr Herz zusammen. Ein einst
vertrautes Gefühl, das sie lange nicht mehr gespürt hatte.
Babylon, 22. Daisios
Paruschjati legte die Hand auf die Brüstung und sah hinunter
auf das weitläufige Areal nördlich der Stadtmauer, das im Westen an die
Prozessionsstraße anschloss. Im Licht der aufgehenden Sonne reihte sich hier
ein Zelt an das andere. Paruschjati war lange genug verschiedenen Armeen
gefolgt, um zu wissen, wie es aussah, wenn sich eine zum Abmarsch bereit
machte. Diese hier tat es nicht, so viel war klar. Niemand brach die Zelte ab,
niemand belud die Lastkarren, keine Trompetensignale riefen die Soldaten.
Dennoch herrschte Unruhe im Lager. Bewaffnete drängten sich durch die
Zeltgassen, einzeln oder in Schwärmen, rotteten sich auf Plätzen zusammen und
diskutierten aufgeregt miteinander. Es war offensichtlich, dass sie nicht
weniger beunruhigt waren als Paruschjati selbst.
Schon beim ersten Morgengrauen hatte sie den Palast
verlassen und war auf die nördliche Stadtmauer gestiegen, wo sie sich
persönlich davon überzeugen wollte, dass Gambijas Vermutungen zutrafen. Und
das, obwohl sie sich kaum auf den Beinen halten konnte. Schon in der Nacht
hatte ihr alter Begleiter, die Übelkeit, sie wieder eingeholt.
Und sie war schlimmer als je zuvor. Immer wieder hatte
Paruschjati sich übergeben müssen, sich stundenlang in Krämpfen gewunden.
Selbst als es vorbei war, war ihr noch so elend, dass sie glaubte, sterben zu
müssen. Zu allem Überfluss hatte Mannuja anfangs ihre Begeisterung kaum verhehlen
können, doch je länger die Krämpfe
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