Die Pest (German Edition)
und vor den Kinos wurden die Schlangen länger. Die Epidemie schien übrigens zurückzugehen, und während einiger Tage wurden nur etwa ein Dutzend Tote gezählt. Dann auf einmal stieg sie wieder steil an. An dem Tag, als die Zahl der Toten wieder dreißig erreichte, las Bernard Rieux die amtliche Depesche, die der Präfekt ihm mit den Worten gereicht hatte: «Sie haben es mit der Angst bekommen.» Die Depesche lautete: «Pestzustand erklären. Stadt schließen.»
II
Man kann wohl sagen, dass von diesem Moment an die Pest uns alle betraf. Bis dahin war jeder unserer Mitbürger, trotz der Überraschung und Besorgnis, die diese beispiellosen Ereignisse für alle mit sich gebracht hatten, an seinem gewohnten Platz seiner Tätigkeit nachgegangen, so gut er konnte. Und zweifellos sollte das so weitergehen. Aber als die Tore auf einmal geschlossen waren, merkten sie, dass sie alle, auch der Erzähler, in derselben Falle saßen und sich damit abfinden mussten. So wurde zum Beispiel ein so individuelles Gefühl, wie das des Getrenntseins von einem geliebten Menschen, schon in den ersten Wochen plötzlich von einem ganzen Volk empfunden und war zusammen mit der Angst das schlimmste Leid dieser langen Zeit des Exils.
Eine der spürbarsten Folgen der Schließung der Tore war nämlich die plötzliche Trennung von Menschen, die nicht darauf vorbereitet waren. Mütter und Kinder, Ehepaare, Liebende, die einige Tage zuvor geglaubt hatten, sich für eine vorübergehende Zeit zu trennen, sich auf dem Bahnsteig unseres Bahnhofs mit zwei oder drei guten Ratschlägen zum Abschied geküsst hatten, in der Gewissheit, sich in einigen Tagen oder ein paar Wochen wiederzusehen, ganz eingelullt von der stumpfsinnigen menschlichen Vertrauensseligkeit und durch diese Abreise kaum von ihren gewohnten Sorgen abgelenkt, waren mit einem Mal rettungslos entfernt voneinander, ohne die Möglichkeit, zusammenzukommen und sich in Verbindung zu setzen. Die Tore waren nämlich einige Stunden vor der Bekanntmachung der Präfektursanordnung geschlossen worden, und Sonderfälle konnten natürlich nicht berücksichtigt werden. Man kann sagen, dass die erste Auswirkung dieser brutalen Invasion der Krankheit darin bestand, unsere Mitbürger zu zwingen, so zu handeln, als hätten sie keine persönlichen Gefühle. In den ersten Stunden des Tages, an dem die Anordnung in Kraft trat, wurde die Präfektur von einer Menge von Anfragenden bestürmt, die am Telefon oder bei den Beamten ebenso Teilnahme erregende wie gleichzeitig nicht überprüfbare Situationen darlegten. Wir brauchten allerdings mehrere Tage, bis uns klar wurde, dass wir uns in einer ausweglosen Situation befanden und dass die Wörter «verhandeln», «Gunst», «Ausnahme» keinen Sinn mehr hatten.
Selbst die leise Befriedigung zu schreiben wurde uns verwehrt. Zum einen nämlich war die Stadt nicht mehr durch die üblichen Kommunikationsmittel mit dem Rest des Landes verbunden, und zum andern verbot eine neue Anordnung den Austausch jeglicher Korrespondenz, damit die Briefe nicht zu Infektionsträgern wurden. Anfangs konnten sich einige Privilegierte mit den Wachposten an den Stadttoren absprechen, die einwilligten, Botschaften hinauszubefördern. Allerdings war das noch in den ersten Tagen der Epidemie, als die Wächter es normal fanden, Regungen des Mitgefühls nachzugeben. Aber nach einiger Zeit, als dieselben Wächter vom Ernst der Lage überzeugt waren, weigerten sie sich, die Verantwortung für etwas zu übernehmen, dessen Tragweite sie nicht übersehen konnten. Die anfangs erlaubten Ferngespräche riefen eine solche Überlastung der öffentlichen Zellen und der Leitungen hervor, dass sie einige Tage gänzlich unterbrochen waren und dann strikt auf sogenannte dringende Fälle wie Tod, Geburt und Hochzeit beschränkt waren. Telegramme blieben damals unsere einzige Möglichkeit. Einander geistig, gefühlsmäßig und körperlich verbundene Menschen waren darauf angewiesen, die Zeichen dieser alten Verbundenheit aus der Blockschrift einer Depesche von zehn Wörtern herauszulesen. Und da die Formeln, die man in einem Telegramm benutzen kann, schnell erschöpft sind, wurden ein langes gemeinsames Leben oder eine schmerzhafte Leidenschaft schnell in einem regelmäßigen Austausch stehender Wendungen zusammengefasst, wie: «Bin gesund. Denke an dich. Alles Liebe.»
Manche von uns ließen jedoch nicht davon ab, zu schreiben und sich unentwegt Tricks auszudenken, um mit der Außenwelt in Verbindung zu
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