Die Pest (German Edition)
war in ein mildes, kühles Licht getaucht. Im Abendfrieden stieg von überall her das Geklapper von Löffeln und Tellern auf. Fledermäuse flatterten über die Zelte und verschwanden plötzlich. Jenseits der Mauer kreischte eine Straßenbahn auf einer Weiche.
«Armer Richter», murmelte Tarrou, als er aus dem Tor trat. «Man müsste etwas für ihn tun. Aber wie soll man einem Richter helfen?»
Wie dieses gab es in der Stadt noch mehrere andere Lager, von denen der Erzähler wegen fehlender unmittelbarer Kenntnis guten Gewissens nichts weiter berichten kann. Was er aber sagen kann, ist, dass das Vorhandensein dieser Lager, der Menschengeruch, den sie verbreiteten, die lärmenden Stimmen der Lautsprecher in der Abenddämmerung, das Geheimnis der Mauern und die Furcht vor diesen verfemten Stätten schwer auf die Moral unserer Mitbürger drückten und die Verwirrung und das Unbehagen aller noch verstärkten. Die Zwischenfälle und die Konflikte mit der Verwaltung häuften sich.
Ende November wurden jedoch die Morgen sehr kalt. Sintflutartige Regengüsse wuschen das Pflaster gründlich sauber, klärten den Himmel auf und hinterließen ihn wolkenlos über den glänzenden Straßen. Eine kraftlose Sonne verbreitete allmorgendlich ein glitzerndes, eisiges Licht über der Stadt. Gegen Abend allerdings wurde die Luft wieder lau. Diesen Zeitpunkt wählte Tarrou aus, um sich Doktor Rieux ein wenig anzuvertrauen.
Eines Abends gegen zehn Uhr, nach einem langen, anstrengenden Tag, begleitete Tarrou Rieux, der seinen abendlichen Besuch bei dem alten Asthmatiker machen wollte. Der Himmel leuchtete sanft über den Häusern des alten Viertels. Ein leichter Wind wehte lautlos über die dunklen Kreuzungen. Aus den stillen Straßen kommend, waren die beiden Männer auf einmal dem Geschwätz des Alten ausgesetzt. Der teilte ihnen mit, dass es manche gebe, die nicht damit einverstanden waren, dass die Futterkrippe immer auf der gleichen Seite stehe, dass der Krug so lange zu Wasser gehe, bis er breche, und dass es wahrscheinlich, und dabei rieb er sich die Hände, dicke Luft geben werde. Der Arzt behandelte ihn, ohne dass er aufhörte, die Ereignisse zu kommentieren.
Sie hörten Schritte über sich. Die alte Frau, die Tarrous interessierten Ausdruck bemerkte, erklärte ihnen, es seien Nachbarinnen auf der Dachterrasse. Gleichzeitig erfuhren sie, dass man von dort oben einen schönen Blick hatte und dass die Frauen des Viertels sich gegenseitig besuchen konnten, ohne das Haus zu verlassen, weil die Terrassen der Häuser auf einer Seite aneinander grenzten.
«Ja», sagte der Alte, «gehen Sie doch hinauf. Dort oben ist die Luft gut.»
Sie fanden die Terrasse, auf der drei Stühle standen, leer vor. Auf der einen Seite sah man, so weit der Blick reichte, nur Dachterrassen, die sich schließlich an eine dunkle, steinige Masse lehnten, in der sie den ersten Hügel erkannten. Auf der anderen Seite, über einige Straßen und den unsichtbaren Hafen hinweg, versank der Blick in einem Horizont, an dem der Himmel und das Meer in einem wabernden Beben ineinander übergingen. Jenseits der Klippen, die sie nur erahnten, schien in gleichmäßigen Abständen ein Licht auf, dessen Quelle sie nicht sahen: Der Leuchtturm in der Hafeneinfahrt blinkte seit dem Frühjahr weiter für Schiffe, die nach anderen Häfen abdrehten. An dem vom Wind blankgefegten Himmel funkelten klare Sterne, und der ferne Schein des Leuchtturms huschte alle Augenblicke aschgrau darüber hinweg. Die Brise trug einen Geruch nach Gewürzen und Stein herbei. Die Stille war vollkommen.
«Es ist schön hier», sagte Rieux, während er sich setzte. «Es ist, als wäre die Pest nie hier heraufgestiegen.»
Tarrou stand mit dem Rücken zu ihm und schaute aufs Meer.
«Ja», sagte er nach einer Weile, «es ist schön.»
Er setzte sich neben den Arzt und sah ihn aufmerksam an. Dreimal tauchte der Lichtschein am Himmel auf. Tief aus der Straße drang ein Klappern von Geschirr zu ihnen herauf. Im Haus schlug eine Tür zu.
«Rieux», sagte Tarrou in ganz natürlichem Ton, «haben Sie nie herausfinden wollen, wer ich bin? Empfinden Sie Freundschaft für mich?»
«Ja», antwortete der Arzt, «ich empfinde Freundschaft für Sie. Aber bisher hat uns die Zeit gefehlt.»
«Gut, das beruhigt mich. Wollen Sie, dass dies die Stunde der Freundschaft ist?»
Statt einer Antwort lächelte Rieux ihn an.
«Gut, also dann …»
Ein paar Straßen weiter schien ein Auto lange auf dem nassen
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