Die Pest (German Edition)
Pflaster zu rutschen. Es entfernte sich, und danach zerrissen noch verworrene Rufe von weit her die Stille. Dann fiel sie wieder mit ihrem ganzen Gewicht von Himmel und Sternen auf die beiden Männer. Tarrou war aufgestanden und hatte sich Rieux gegenüber, der immer noch zusammengesunken auf seinem Stuhl saß, auf die Brüstung der Terrasse geschwungen. Man sah von ihm nur eine massige Silhouette, die sich gegen den Himmel abhob. Er sprach lange, und dies ist die ungefähre Wiedergabe seines Redens:
«Vereinfacht gesagt, Rieux, litt ich schon an der Pest, lange bevor ich diese Stadt und diese Epidemie kennenlernte. Damit soll gesagt sein, dass ich wie jedermann bin. Aber es gibt Leute, die es nicht wissen oder die sich in diesem Zustand wohl fühlen, und Leute, die es wissen und die da heraus wollen. Ich wollte immer heraus.
Als ich jung war, lebte ich mit der Vorstellung von meiner Unschuld, das heißt mit gar keiner Vorstellung. Ich bin kein unruhiger Geist, ich habe angefangen, wie es sich gehörte. Mir gelang alles, ich war in der Welt des Geistes zu Hause, kam bestens mit den Frauen aus, und wenn ich irgendwelche Sorgen hatte, vergingen sie so schnell, wie sie gekommen waren. Eines Tages habe ich angefangen nachzudenken. Jetzt …
Ich muss Ihnen sagen, dass ich nicht arm war wie Sie. Mein Vater war Oberstaatsanwalt, eine gute Position. Da er gutmütig war, ließ er es sich jedoch nicht anmerken. Meine Mutter war einfach und bescheiden, ich habe nie aufgehört sie zu lieben, aber ich möchte lieber nicht von ihr sprechen. Er kümmerte sich liebevoll um mich, und ich glaube sogar, dass er versuchte, mich zu verstehen. Er hatte Abenteuer außerhalb, da bin ich heute sicher, und übrigens liegt es mir fern, mich darüber zu entrüsten. Bei alldem verhielt er sich, wie man es von ihm erwartete, ohne jemanden vor den Kopf zu stoßen. Kurz gesagt, er war nicht sehr originell, und heute, da er tot ist, wird mir bewusst, dass er, auch wenn er nicht wie ein Heiliger gelebt hat, kein schlechter Mensch war. Er war einfach nur durchschnittlich, und das ist der Menschentyp, zu dem man eine vernünftige Zuneigung hat, die, die einen dazu bewegt weiterzumachen.
Er hatte jedoch eine Besonderheit: Das große Eisenbahnkursbuch Chaix war sein Lieblingsbuch. Nicht dass er reiste, außer in den Ferien, wenn er in die Bretagne fuhr, wo er ein kleines Landgut hatte. Aber er war imstande, einem die genauen Abfahrts- und Ankunftszeiten des Paris-Berlin-Express anzugeben, die Anschlüsse, die man nehmen musste, um von Lyon nach Warschau zu fahren, die genaue Kilometerzahl zwischen Hauptstädten Ihrer Wahl. Können Sie sagen, wie man von Briançon nach Chamonix kommt? Selbst ein Bahnhofsvorsteher würde da versagen. Mein Vater nicht. Er beschäftigte sich fast jeden Abend damit, seine Kenntnisse hierin zu erweitern, und war ziemlich stolz darauf. Das belustigte mich sehr, ich stellte ihm oft Fragen und war hocherfreut, wenn ich seine Antworten im Chaix überprüfte und feststellte, dass er sich nicht geirrt hatte. Diese kleinen Übungen haben uns sehr miteinander verbunden, weil ich für ihn ein Publikum war, dessen Gutwilligkeit er zu schätzen wusste. Und ich selbst fand, dass diese Überlegenheit in Bezug auf die Eisenbahn so gut war wie jede andere.
Aber ich lasse mich hinreißen und laufe Gefahr, diesen biederen Mann als zu wichtig hinzustellen. Denn letzten Endes hat er nur einen indirekten Einfluss auf meinen Entschluss gehabt. Er hat mir höchstens einen Anlass geliefert. Als ich siebzehn war, hat mein Vater mich nämlich eingeladen, mitzukommen und ihm einmal zuzuhören. Es ging um einen wichtigen Prozess vor dem Schwurgericht, und er hatte bestimmt gedacht, er werde im besten Licht erscheinen. Ich glaube auch, dass er auf diese feierliche Handlung zählte, die geeignet war, junge Menschen zu beeindrucken, um mich dazu zu bringen, die Laufbahn einzuschlagen, die er selbst gewählt hatte. Ich hatte eingewilligt, weil es meinem Vater Freude machte und auch weil ich neugierig war, ihn in einer anderen Rolle zu sehen und zu hören als in der, die er bei uns spielte. Mehr dachte ich mir nicht dabei. Das Geschehen in einem Gerichtssaal war mir immer so natürlich und unvermeidlich vorgekommen wie eine Parade zum 14. Juli oder eine Preisverteilung. Ich hatte eine ganz abstrakte Vorstellung davon, die mich nicht störte.
Und doch habe ich von jenem Tag nur ein einziges Bild behalten, das des Schuldigen. Ich glaube, er war
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