Die Pest (German Edition)
tatsächlich schuldig, wessen, spielt keine große Rolle. Aber dieser etwa dreißigjährige kleine Mann mit dem spärlichen roten Haar schien so entschlossen, alles zuzugeben, so ehrlich erschrocken von dem, was er getan hatte und was man ihm antun würde, dass ich nach wenigen Minuten nur noch Augen für ihn hatte. Er sah aus wie eine von einem allzu grellen Licht aufgescheuchte Eule. Der Knoten seiner Krawatte saß nicht richtig zwischen dem Kragen. Er kaute an den Nägeln der einen Hand, der rechten … Kurz, ich will es nicht breittreten, Sie haben ja verstanden, dass er ein lebendiges Wesen war.
Aber das merkte ich ganz plötzlich, während ich bis dahin nur in der bequemen Kategorie ‹Angeklagter› an ihn gedacht hatte. Ich kann nicht sagen, dass ich in dem Augenblick meinen Vater vergaß, aber auf meinen Magen drückte etwas, was mir jede Aufmerksamkeit raubte, außer der für den Beschuldigten. Ich hörte fast nichts, ich spürte, dass man diesen lebenden Menschen töten wollte, und ein Instinkt trug mich wie eine ungeheure Woge mit einer Art starrsinniger Blindheit an seine Seite. Ich wurde erst bei der Anklagerede meines Vaters richtig wach.
Durch seine rote Robe verwandelt, war er weder gutmütig noch herzlich, und sein Mund ging über von gewaltigen Sätzen, die unablässig wie Schlangen daraus hervorkamen. Und ich begriff, dass er im Namen der Gesellschaft den Tod dieses Menschen forderte und sogar forderte, dass man ihm den Hals durchtrennte. Er sagte allerdings nur: ‹Dieser Kopf muss fallen.› Aber letzten Endes war der Unterschied nicht groß. Und es kam tatsächlich auf das Gleiche heraus, da er diesen Kopf bekam. Nur war es nicht er, der dann die Arbeit tat. Und ich, der ich danach diesen Prozess bis zum Schluss verfolgte, ich empfand mit diesem Unglücklichen eine viel schwindelerregendere Vertrautheit, als mein Vater sie je hatte. Dabei musste er, wie es Brauch war, dem beiwohnen, was man höflich die letzten Augenblicke nannte und was man als niederträchtigsten Mord bezeichnen muss.
Von diesem Tag an konnte ich das Chaix-Kursbuch nur noch mit abscheulichem Ekel ansehen. Von diesem Tag an interessierte ich mich voller Grauen für die Justiz, für Todesurteile, für Hinrichtungen, und ich stellte aufgewühlt fest, dass mein Vater mehrmals dem Morden hatte beiwohnen müssen, und zwar an den Tagen, an denen er sehr früh aufstand. Ja, in solchen Fällen stellte er seinen Wecker. Ich wagte nicht, mit meiner Mutter darüber zu sprechen, aber ich beobachtete sie nun genauer, und mir wurde klar, dass nichts mehr zwischen ihnen war und dass sie ein Leben der Entsagung führte. Das half mir, ihr zu verzeihen, wie ich damals sagte. Später erfuhr ich, dass es nichts zu verzeihen gab, weil sie bis zu ihrer Heirat ihr Leben lang arm gewesen war und die Armut sie Resignation gelehrt hatte.
Sie erwarten wahrscheinlich, dass ich Ihnen sage, ich sei sofort weggegangen. Nein, ich bin noch mehrere Monate, fast ein Jahr geblieben. Aber mein Herz war krank. Eines Abends fragte mein Vater nach seinem Wecker, weil er früh aufstehen musste. Ich schlief die ganze Nacht nicht. Als er am nächsten Tag nach Hause kam, war ich weg. Ich will gleich sagen, dass mein Vater mich suchen ließ, dass ich zu ihm ging, dass ich ihm ruhig, ohne etwas zu erklären, sagte, ich würde mich umbringen, wenn er mich zwänge zurückzukommen. Er stimmte schließlich zu, denn er war eigentlich sanft, er hielt mir einen Vortrag, was für eine Dummheit es sei, sein Leben leben zu wollen (so erklärte er sich mein Tun, und ich brachte ihn keineswegs davon ab), gab mir tausend Ermahnungen und unterdrückte die aufrichtigen Tränen, die ihm kamen. In der Folge, allerdings sehr lange danach, besuchte ich regelmäßig meine Mutter und traf ihn dann auch. Ich glaube, diese Beziehungen genügten ihm. Ich selbst hatte nichts gegen ihn, sondern war im Innern nur etwas traurig. Als er starb, nahm ich meine Mutter zu mir, und da wäre sie noch, wenn sie nicht auch gestorben wäre.
Ich habe diesen Anfang so lang und breit erzählt, weil er tatsächlich der Anfang von allem war. Ich werde jetzt schneller fortfahren. Aus dem Wohlstand kommend, habe ich mit achtzehn die Armut kennengelernt. Ich habe tausend Berufe ausgeübt, um meinen Lebensunterhalt zu verdienen. Das ist mir gar nicht schlecht gelungen. Aber was mich interessierte, war das Todesurteil. Ich wollte eine Rechnung mit der roten Eule begleichen. Folglich bin ich in die Politik
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