Die Pest zu London
Ich würde ihnen großes Unrecht tun, wollte ich nicht anerkennen, daß, wie ich glaube, viele von ihnen ernsthaft dankbar gewesen sind. Aber ich muß bekennen, daß, was die Mehrzahl der Leute angeht, man auch von ihnen mit Recht sagen kann, was von den Kindern Israels gesagt worden ist, als sie nach ihrer Rettung vor den Heerscharen Pharaos das Rote Meer durchzogen hatten und zurückblickten und sahen, wie die Ägypter von den Wassern verschlungen wurden: Sie sangen Ihm Lobeslieder, aber vergaßen bald Seine Werke.
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Ich kann nicht weitergehen. Man würde es mir als kritiksüchtig und vielleicht auch als Unrecht ankreiden, wollte ich mich nun an die unangenehme Aufgabe machen, Überlegungen über die, was immer ihre Gründe waren, Undankbarkeit und die Wiederkehr jeder Art von Bosheit unter uns anzustellen, wovon ich nur zuviel mit eigenen Augen zu sehen bekommen habe. Ich werde deshalb den Bericht über dieses unselige Jahr mit einer unbeholfenen, aber aufrichtigen Strophe von mir selbst beschließen, die ich in dem Jahr, in dem sie geschrieben wurde, an das Ende meiner alltäglichen Aufzeichnungen setzte: Im Jahre fünfundsechzig war’s, da hat’s
die graus’ge Pest in London gegeben.
Die hat wohl an die hunderttausend
hinweggeschafft, und ich bin noch am Leben.
H.
F.
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Nachwort
Ohne Ankündigung, heimtückisch, unberechenbar trifft die Pest den Menschen. Im Jahr der großen Pest zu London, 1665
– auch noch lange danach –, wußte man nichts über sie, außer daß sie in Epidemien auftrat, die durch nichts wirksam zu beeinflussen waren, und daß die Fälle meist tödlich verliefen, besonders am Beginn einer neuen Heimsuchung. Die Angst vor dem Schwarzen Tod war allgemein tief verwurzelt, und das gerade in einer Zeit, in der die Bedrohung des Lebens durch Unfälle und Krankheiten weit höher war als heute. Seit mehr als dreihundert Jahren, seit 1347/48, schlug die Pest in unre-gelmäßigen Abständen in einzelnen Städten oder ganzen Landstrichen zu, holte ihren Tribut mitunter in einem Ausmaß, daß tiefgreifende soziale Umschichtungen die Folge waren.
Erst 1894 wurde der Erreger, ein Bakterium, von A. Yersin und S. Kitasato entdeckt, die Übertragung durch Flohstiche, die Zwischenträgerschaft und Verbreitung durch Ratten aufgeklärt.
1664, im Herbst, treten in London zwei Pestfälle auf. Zwei Franzosen erkranken und sterben in ihrem Logis »Long Acre, oder richtiger am oberen Ende von Drury Lane«. Man nimmt an, daß sie in Holland, von wo Kaufleute über eine Epidemie berichtet haben, infiziert worden waren. Diese Fälle werden zunächst ignoriert, ohne daß Defoe darauf eingeht, daß die Pest in London ja nicht unbekannt war, immer wieder vereinzelt aufgetreten war und daß 1636/1637 als Pestjahre in die Geschichte eingegangen waren.
Weitere Fälle im Frühjahr 1665 werden verschwiegen, als Todesfälle durch Fleckfieber dargestellt und bagatellisiert.
Auch die örtliche Beschränkung auf zunächst ein bis zwei Pfarrsprengel wird als »Beruhigungspille« für die Bevölkerung 316
gewertet. Wen erinnert das nicht an das Verhalten von Behörden bei Vorfällen aus jüngster Zeit? Bis zum Frühsommer funktioniert dieses System, dann jedoch kann die Ausweitung zu einer Epidemie nicht mehr verheimlicht werden. Entsetzen greift um sich, Massenflucht und damit verbunden Massenar-beitslosigkeit – Dienstboten, Arbeiter und Tagelöhner werden gekündigt, die Besitzlosen vor das Nichts geworfen – setzen ein. Ein jeder muß sehen, wo er bleibt, aus einer friedlichen Idylle wird ein Hexenkessel mit allen Erscheinungen der Massenhysterie. Im Zeitalter des Puritanismus zeigt sich, daß innere Einkehr und Gottvertrauen nur wenigen gegeben ist und daß wie eh und je Geschäftemacherei mit Angst und Aberglau-ben, mit Unkenntnis und Hoffnung, daß exzessive Hingabe an Äußerlichkeiten weit mehr zutage treten. Diese Erscheinungen sind bis heute gleich geblieben, nur die äußeren Anlässe haben sich geändert.
Defoes Schilderung der Pest zu London galt vom Augenblick des Erscheinens 1722 etwa zwei Jahrhunderte lang als Augenzeugenbericht, in der medizinischen Forschung sogar als wichtigste Quelle für diese Epidemie. Erst die moderne Litera-turwissenschaft zweifelte an der unmittelbaren Authentizität, als man nach dem Geburtsjahr dieses Begründers der Kunstform des realistischen Romans forschte.
1660 oder 1661 zu London war er geboren worden, genaueres fand man nicht. Im »Journal of the
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