Die Pestärztin
stürmte sie auf ihren Peiniger zu, um Schwung in ihren Stoß zu legen.
Und dann war es gar nicht so schwer. Die wohlgepflegte Spitze der Halmbarte durchstieß den ungeschützten Körper des Büttels so leicht, als schöbe man ein totes Huhn auf einen Spieß. Allerdings reichte Lucias Kraft nicht, ihm auch noch das Beil vollständig in die Brust zu rammen.
Der Mann sah Lucia fast ungläubig an, röchelte und fasste nach dem Speer zwischen seinen Rippen.
»Ist was, Martin?«, fragte der Alte von draußen.
Martin gab ein gurgelndes Geräusch von sich. Lucia zog an ihrer Waffe. Wenn sie Berthold damit bedrohen wollte, musste sie die Halmbarte frei bekommen, aber da schien keine Chance zu bestehen. Das Beil hatte sich wohl in einer Rippe verkantet.
Aber halt, es gab ja noch mehr von diesen Dingern!
Lucia schaffte es gerade noch, sich eine weitere Halmbarte zu greifen, bevor der ältere Büttel eintrat und fassungslos auf seinen Kumpan blickte. Martin war noch nicht tot, aber sein Blut ergoss sich in Strömen auf den Boden der Kammer. Die Zuckungen seines Körpers wurden zusehends schwächer.
»Martin ...« Der ältere Büttel dachte wirklich langsam. Aber nun sah er sich doch nach Lucia um, die wie ein rasender Racheengel vor ihm stand, die nächste Lanze stoßbereit in beiden Händen.
Am liebsten wäre sie mit Berthold genau so verfahren wie mit seinem Kumpan, aber er musste ihr das Tor öffnen. Allein würde sie das nicht schaffen.
»Mach das Tor auf!«, fuhr sie ihn an. »Oder du landest auch am Spieß wie ein Ochse!« Sie hoffte nur, dass er nicht zu kämpfen versuchte. Aber die Männer hatten ihre Wehrgehänge vor der Vergewaltigung abgenommen. Wahrscheinlich lagen die Schwerter im Torbogen.
Der Mann blickte sie an wie blöde. Ein Mädchen, das ihn mit einer Waffe bedrohte, überstieg wohl sein Begriffsvermögen.
Lucias Herz raste.
»Mach. Das. Tor. Auf!«, sagte sie noch einmal. Ganz langsam, jedes Wort betonend.
Und dann bewegte der Mann sich endlich.
»Hexe!«, murmelte er, verließ aber immerhin die Wachstube in Richtung Tor. Lucia folgte ihm mit der Halmbarde, jederzeit bereit, zuzustoßen. Doch zu ihrer Erleichterung versuchte er keinen Gegenangriff. Stattdessen schob er die schweren eisernen Riegel auf, die das Stadttor verschlossen. Lucia dachte derweil fieberhaft nach. Sie musste gleich auf ihr Maultier kommen; die Scheckstute wartete zum Glück brav an dem Ring, an den Lucia sie vorhin gebunden hatte. Aber die Waffe würde sie loslassen müssen, wenn sie sich in den Sattel schwang. Und so dumm, dass er sie dabei nicht aufhielt, konnte Berthold nicht sein. Sie musste ihn einsperren. Die Wachstube ... Wenn Waffen darin aufbewahrt wurden, war sie bestimmt verschließbar.
Lucia atmete auf, als das Tor sich öffnete.
»Und nun geh zu deinem Freund!«, forderte Lucia den Wachmann auf. »Nun mach schon, in die Wachstube!«
Der ältere Büttel bewegte sich langsam auf die kleine Räumlichkeit zu. Er ging rückwärts; Lucia wusste nicht, ob er sie im Auge behalten wollte oder ob er den Anblick seines toten oder sterbenden Freundes fürchtete.
»Willst du zur Hölle fahren?«, herrschte sie ihn an. »Wenn nicht, dann nimm die Beine in die Hand!«
Der Mann schob sich in die Wachstube und versuchte dann doch noch einen Angriff, als Lucia die Tür schon zuschieben wollte. Doch Lucia war auf der Hut. Sie stieß augenblicklich zu - schnell, aber ziellos und mit wenig Kraft. Dennoch hörte sie den Mann aufschreien. Und auch wenn er nur leicht verletzt war: Sie fand immerhin genug Zeit, die Tür zuzuschieben und den Riegel vorzulegen. Auch hier schweres Eisen. Bevor nicht die Nachtwächter kamen, sollte niemand die Kerle finden.
Lucia gönnte ihnen keinen weiteren Gedanken, sondern eilte zu ihrem Maultier. Noch einmal schwang sie sich in höchster Eile in den Sattel, und noch einmal gab sie der sanften Stute weit härtere Hilfen zum Angaloppieren, als es eigentlich sein musste. Entsprechend erschrocken trat das Tier an. Lucia geriet fast aus dem Gleichgewicht, als es in langen Sprüngen durch das Tor rannte und zum Rhein hinab weitergaloppierte. Weg hier! Nur weg!
Die Juden von Landshut
L ANDSHUT 1349-1350
1
L ucia lenkte ihre Stute nach Süden, zunächst am Rheinufer entlang. Sie wusste von Clemens, dass die Pest in den südlichen Teilen des Reiches nicht wütete - ein Umstand, dessen mögliche Bedeutung sie an vielen langen Abenden diskutiert hatten. Ob es am Klima lag? An den Winden? An der
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