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Die Pestärztin

Titel: Die Pestärztin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ricarda Jordan
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Offensichtlich wagten sich zurzeit nur die auf Reisen, die nicht umhin konnten. Die Ritter und Edelfrauen verschanzten sich auf ihren Burgen, die Bürger in den Städten, und die Bauern verließen ihre Höfe ohnehin fast nie. Die meisten Städte hatten ihre Jahrmärkte der Pest wegen abgesagt. Man veranstaltete eher Bußprozessionen als Volksfeste; deshalb war wenig fahrendes Volk unterwegs. Wenn Lucia in den ersten Wochen ihrer Reise überhaupt Menschen traf, so meist Familien auf der Flucht vor der Pest. In der Regel waren es Angehörige niederer Stände, die mit Kind und Kegel das Weite suchten. Wer kein Haus besaß und obendrein seine Herrschaft und seine Arbeit durch die Seuche verloren hatte, machte sich eher aus dem Staub als eingesessene Handwerker und Kaufleute. Dennoch waren diese Menschen kein Abschaum, und anfänglich hegte Lucia sogar die Hoffnung, sich einer dieser Gruppen anschließen zu können, die mühsam ihre Karren über die steinigen Landstraßen schoben. Doch sie fand schnell heraus, dass sie nicht erwünscht war. Ein allein reisendes Mädchen galt als Freiwild. Die Frauen gingen davon aus, dass es nur hinter ihren Männern her war, und die Männer hielten es für eine der herumreisenden Prostituierten, die auf Jahrmärkten ihre Dienste anboten. Manch einer bot Lucia denn auch verstohlen etwas Geld oder Essen für einen raschen Beischlaf an, doch als Reisegefährtin ihrer Frauen und Kinder hätte man sie niemals geduldet.
    Auch die Bauern, bei denen Lucia anhielt, um Wegzehrung zu erstehen, reagierten nicht sehr freundlich. Manchmal musste sie in drei oder vier Gehöften nachfragen, bis jemand sich bereit erklärte, ihr ein paar Lebensmittel zu verkaufen - und der forderte dann viel zu viel Geld für minderwertige Ware. Wenn sie einen Mann allein antraf, versuchte er zudem mir ihr zu tändeln. Ein paar Eier oder ein Brot gegen ein paar Stunden in seinem Bett erschien ihm ein ordentlicher Handel, und einmal musste Lucia sogar ihren Dolch zücken, bevor ein Knecht begriff, dass sie darauf nicht erpicht war. Sie war jedes Mal froh, wenn sie ihre Vorräte ergänzt hatte und wieder in die Wälder neben den Landstraßen abtauchen konnte. Schon nach wenigen Tagen konnte sie sich kaum vorstellen, sich jemals in den teils dichten Waldstücken gefürchtet zu haben. Inzwischen fühlte Lucia sich dort sicherer als auf den Hauptstraßen, und wären die Albträume von Blut und Brand nicht gewesen, die sie fast jede Nacht heimsuchten, hätte sie das weiche Lager im Moos und den morgendlichen Gesang der Waldvögel beinahe genossen. Leider gelang es ihr jetzt kaum noch, von Clemens zu träumen. Eher verfolgten sie die Erinnerungen an Bertholds stinkenden Atem und Martins Rattengesicht - mitunter so intensiv, dass sie morgens noch Übelkeit spürte und kein Frühstück herunterbrachte.
    Inzwischen hatte sie sich mit der Einsamkeit abgefunden und ritt oft querfeldein, statt sich wieder auf die Straße zu begeben. Nach wie vor war das Wetter gut; es fiel ihr leicht, sich am Stand der Sonne nach Südosten zu orientieren. Dankbar dachte sie daran, wie Benjamin von Speyer den Kindern einmal erklärt hatte, wie man das anstellte. Der weitgereiste Kaufmann hatte zudem ein Astrolabium besessen, das die Orientierung bei Nacht und auf hoher See ermöglichte. Lucia sah noch Davids gespannt auf seinen Vater gerichtetes, damals noch kindliches Gesicht vor sich, als der ihm die Arbeit mit dem Messinstrument aus den Ländern der Mauren vorführte. Es war schwer zu begreifen, dass sie alle jetzt tot waren. Esra ... Lea ... und David. Lucia gestand es sich nicht gern ein, aber selbst um Letzteren empfand sie Trauer. Er war kein mutiger Mann gewesen und ganz sicher nicht der Richtige für sie, aber er hatte sie geliebt.
 
    Abseits der Verkehrswege fühlte sich Lucia auch sicherer vor den Judenschlägern und Flagellanten, die immer noch durch die Lande streiften. Allerdings waren ihre Trupps auch auf den Hauptstraßen leicht zu meiden. Ihre Gesänge, das Klatschen ihrer Peitschen und der Geruch dutzender blutender, seit Wochen ungewaschener Körper kündigte sie schon von weitem an. Manchmal versteckte Lucia sich im Wald in ihrer Nähe und beobachtete die verrückten Rituale. Dabei fühlte sie sich an die Geschichten von Hexenversammlungen und dunklen Riten erinnert, die man den Juden so gern unterstellte. Hier aber waren es Christen, und es sollte sogar Gott wohlgefällig sein, wenn die Männer sich im Fackelschein mit

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