Die Pestärztin
Herzogin stand hoch aufgerichtet in der Mitte. Sie war jetzt die Ranghöchste auf den Tribünen und musste das Zeichen zum Anreiten geben.
Der Schimmel des Herzogs schnellte ab, als sie die Hand hob. Er näherte sich Adrians Fuchs so rasant, dass das zierlichere Pferd offensichtlich Angst bekam und schon auswich, noch ehe sein Reiter ihm die Anweisung dazu gab. Das sah aus, als fliehe der Ritter, was ihm Schmährufe von den Tribünen einbrachte - und vor allem höhnische Bemerkungen seines Gegners. Der Herzog brüllte ihm Beleidigungen zu.
Lucia wurde von Schwindel erfasst, als beide Reiter ihre Pferde am Ende der Kampfbahn auf der Hinterhand wenden ließen. Sie warteten keinen weiteren förmlichen Tjost ab, sondern stürmten gleich wieder aufeinander zu. Und diesmal hielt Adrian seinen Hengst in der Spur. Er brauchte dazu Kraft - die ihm fehlen würde, wenn er die Lanze führte. Aber er kam ohnehin gar nicht erst dazu, seinen Stoß zu platzieren. Der Herzog war schneller, seine Lanzenführung gewagter; er war frisch und ausgeruht und mutig von all dem guten Wein, der auf der Ehrentribüne kredenzt wurde.
Lucia musste an Bruder Caspars Haschaschini denken. Sie kannten keine Gnade ...
Auch der Herzog hatte sämtliche Bedenken und Vorsicht vergessen, die sonst den Turnierkampf zu einer reglementierten und nicht allzu lebensgefährlichen Angelegenheit machten. Er stieß bedenkenlos zu - und traf perfekt in die Lücke zwischen Brustpanzer und Armschiene, die sich unweigerlich auftat, wenn der Gegner sich mit eingelegter Lanze näherte.
Lucia meinte, das Eindringen der Lanze in Adrians Körper zu spüren, fühlte den Schnitt, den Stich, den irrsinnigen Schmerz ...
Sie hörte sich schreien ... oder war es die Herzogin?
Lucia presste die Hände auf ihren Bauch, fühlte sich schwanken ... ein Krampf schüttelte ihren Körper. Während sie zu Boden sank, sah sie noch aus dem Augenwinkel, wie man den jungen Ritter vom Platz trug. Dann ertrank sie in ihrem eigenen Schmerz. In Hitze, Angst und Blut ...
Im Nachhinein konnte Lucia sich kaum noch erinnern, wie sie mit Daphnes und Abrahams Hilfe hinten in seinen Wagen gekommen war. Einige wenige Minuten hatte sie wohl das Bewusstsein verloren, aber dann kam sie doch wieder zu sich, zu Schmerzen und brennender Scham. Dies hätte nicht passieren dürfen, nicht hier, vor Abraham Kahlbach und all den Rittern, die sich in einer Mischung zwischen Neugier und Betroffenheit um sie scharten. Zum Glück zeigten sich sowohl Abraham als auch Daphne der Situation gewachsen. Das kleine Mädchen deckte Lucia mit einem Stück Seidenstoff zu, damit die Männer ihr feuchtes Kleid nicht sahen, und Abraham trug sie mehr auf den Wagen, als sie zu stützen. Da lag sie dann auf Seidenstoffen und Planen, während der Händler sein Gefährt so schnell wie möglich zurück in die Stadt lenkte. Als sie das Haus der Levins erreichten, hatten die Wehen bereits voll eingesetzt. Lucia erlaubte Kahlbach trotzdem nicht, sie ins Haus zu tragen. Sie biss die Zähne zusammen und schleppte sich zwischen zwei Wehen, gestützt von Hannah und einer Magd, in die schützende Wohnung.
Natürlich schimpfte Hannah über den Wahnsinn, sich in ihrem Zustand noch auf ein Turnier zu wagen, doch ihre Besorgnis überstieg den Zorn bei Weitem.
»Ich habe es dir gleich gesagt! Und nun kommt das Kind zu früh! Wenn nur die Hebamme schon da wäre ...«
Lucia nahm alles nur durch einen Nebel von Schmerzen wahr, aber im Grunde wusste sie, dass alles in Ordnung war. Die Geburt verlief zwar in ungewöhnlicher Geschwindigkeit, und die Wehen waren außerordentlich heftig für eine Erstgebärende, aber der Ablauf war völlig normal. Sie klammerte sich an den Gedanken, auch nicht zu früh dran zu sein. Sie wollte glauben, dass sie Clemens' Kind zur Welt brachte.
Die nächsten Stunden vergingen in einem Taumel von Schmerzen. Lucia nahm ihre Umgebung nur wie durch einen Schleier wahr, hörte Hannah lamentieren und schließlich die beruhigende Stimme der Hebamme.
»Frau Rachel«, flüsterte sie und wunderte sich über das fremde Gesicht über ihr.
Die Magd schimpfte mit Daphne, während Hannah Gebete murmelte. Schließlich versank alles, und Lucia meinte, in Clemens' sanfte Arme zu sinken. Nie wieder Schmerz spüren, nie wieder Angst haben ...
»Sie ist ohnmächtig! Nein, jetzt nicht einschlafen, Lea, pressen!«
Wer war Lea?
Jemand flößte ihr eine bittere Flüssigkeit ein, zwang sie zum Schlucken. Lucia öffnete die Augen,
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