Die Pestärztin
und der Schmerz war wieder da. Gehorsam presste sie, immer wieder, bis sie meinte, zerrissen zu werden. Und dann glitt etwas zwischen ihre Beine, und der Schmerz ließ endlich nach.
»Es ist da, es ist geschafft!« Die Hebamme konnte sich vor Freude kaum halten. »Ein kleines Mädchen, Frau Lea! Ein wunderschönes kleines Mädchen!«
Lucia nahm all ihre Kraft zusammen, um sich aufzurichten und dem Kind ins Gesicht zu sehen. Sie zitterte davor, die rattenspitze Gesichtsform des Stadtwächters Martin wiederzuerkennen, oder die fleischige Nase seines Freundes Berthold. Das kleine Mädchen erschien allerdings vollkommen. Sein Gesichtchen war oval, seine Nase winzig und der Flaum auf seinem Köpfchen golden. Dazu wirkte es voll entwickelt und schien das Mündchen schon zu einem Lächeln zu verziehen. Lucia lachte zurück. Sie glaubte nicht, hier eine Frühgeburt vor sich zu haben.
Zum Befremden der Levins nannte sie ihre Tochter »Leona«.
»Ist das üblich im Rheinland, den Kindern keine biblischen Namen mehr zu geben?«, fragte Hannah vorsichtig.
Lucia zuckte die Achseln. »Ich weiß nicht«, behauptete sie. »Aber Leona gefällt mir. Im Lateinischen bedeutet es Löwin. Und genau so soll sie sein: stark und klug und schön!«
Hannah verzichtete darauf, ihr vorzuhalten, dass es in der Bibel ausreichend starke, kluge und schöne jüdische Frauen gab, nach denen man das Kind hätte nennen können. Vermutlich nahm sie an, Lea schäme sich für die fragwürdige Abkunft des Kindes und wollte ihm deshalb keinen traditionellen Namen geben.
»Vergiss nicht, es ist kein Makel an ihr!«, sagte sie tröstend. »Sie wurde von einer Jüdin geboren. Das genügt, um zu uns zu gehören!«
Lucia glaubte das persönlich nicht. Sie hatte selbst als Kind zu viele Hänseleien erduldet, um vollständige Toleranz für möglich zu halten. Sicher würden die Erwachsenen sich zurückhalten, doch unter der Hand würden sie über »Leas schweres Schicksal« und ihr »Kuckuckskind«, flüstern. Ihre Kinder würden es hören und Leona den Makel ihrer Abkunft ins Gesicht schleudern.
Sofern Lucia sich wirklich entschloss, das Kind unter den Juden großzuziehen. Bislang bot sich ihr zwar kaum eine Alternative, doch immer, wenn sie sich die Geborgenheit und finanzielle Sicherheit des Hauses Levin - oder Kahlbach - vor Augen hielt, stieg auch der Gedanke an Rauch und Brand, Vergewaltigung und Kampf in ihr auf. Und jeden Abend sah sie, wie man das Judenviertel von Landshut mit Ketten verschloss. Niemand war sicher, den eine Jüdin geboren hatte!
Immerhin entwickelte Lucias Vermögen sich erfreulich. Die Investitionen hatten bislang beste Früchte getragen; auch das Schiff aus Venedig war wohlbehalten zurückgekehrt. Noch zwei oder drei solcher Transaktionen, und sie würde sich auch ohne Hilfe der Levins für Jahre über Wasser halten können. Vielleicht würde sie in eine andere Stadt ziehen, sich als Witwe ausgeben und ihr Kind unter Christen großziehen. Sie liebte ihre Glaubensgenossen nicht, aber Leona wäre zumindest nicht in Gefahr, aus heiterem Himmel und ohne jeden Grund bestialisch ermordet zu werden.
Das alles setzte natürlich voraus, dass sie Abraham Kahlbachs Werbung auf keinen Fall nachgab. Dabei intensivierte der Kaufmann seine Bemühungen jetzt deutlich. Das Kind war schließlich ein Mädchen und das Trauerjahr so gut wie vorbei. So bald es nach der Geburt schicklich war, besuchte er die Levins und saß mit ihnen und Lucia zusammen. Das Stadthaus der Levins besaß einen kleinen Innenhof, und Hannah hatte einen Teil davon als Garten gestaltet. Man konnte in einer Art Pavillon sitzen und die Sommerabende genießen. Zacharias pflegte seine Frau zu necken, sie habe dies bei den Rosengärten der Minnehöfe abgeguckt.
»Lea würde dort durchaus hineinpassen so schön und zart wie sie ist!«, schmeichelte er seiner Nichte. »Alle Ritter würden dir zu Füßen liegen, du könntest dich vor Minneherren kaum retten!«
Lucia dankte errötend, obgleich nichts ihr ferner lag, als Männer für sich zu interessieren. Nach wie vor trug sie Trauer und versteckte ihr Haar bis zur letzten Locke unter einer Haube oder gar einem Schleier. Wie sehr ihr Letzterer schmeichelte, wurde ihr nicht bewusst. Dabei konnte sich zumindest Abraham Kahlbach an diesem Abend kaum an ihr sattsehen. Ihr porzellanweißer Teint und ihre strahlend blauen Augen bildeten einen reizvollen Kontrast zu dem schwarzen Seidenschleier, mit dem sie immer noch auf ihre
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