Die Pestärztin
getrockneter Bohnen abzuschütten, damit das Gericht weniger Blähungen hervorrufe.«
»Wer hat es dir eigentlich geschenkt?«, fragte Lea unvermittelt und blickte Al Shifa fragend an. Die Langeweile war ihr seit Stunden anzumerken, und nun war ihr wohl endlich eine Idee gekommen, wie sie die Maurin zum Themenwechsel anregen konnte. »Das Buch, meine ich. Und all die anderen Bücher über Medizin. Lucia sagt, du hast sie von einer Frau.« Die Mädchen versuchten immer wieder, die Maurin über ihr früheres Leben auszuhorchen, nur war die Strategie selten erfolgreich. Al Shifa pflegte höflich zu antworten, behielt ihre Geschichte aber im Wesentlichen für sich. Auch heute versuchte sie wieder, mit einer knappen Antwort davonzukommen.
»Die Mutter eines Fürsten. Ich lebte eine Zeitlang in ihrem Harem.«
»In ihrem Harem?«, quietschte Lea. »Aber Frauen haben doch keinen Harem! Gehören Haremsdamen denn nicht alle dem Sultan?«
Al Shifa schüttelte den Kopf, und die Mädchen triumphierten: Diese Bewegung leitete stets ausführlichere Erklärungen ein. »Der Harem bezeichnet die Frauengemächer in einem maurischen, arabischen oder persischen Haushalt. Das kann ein Palast sein; dann sind diese Gemächer groß und weitläufig. Aber es können auch nur ein oder zwei Zimmer in einem großen Haus sein, oder ein Zelt bei den Beduinen. Darin leben alle Frauen einer Familie. Also die Ehefrauen und Konkubinen des Hausherrn, aber auch seine Schwestern, seine Töchter - und häufig seine Mutter. Die ist dann die Herrscherin des Harems. Man kann ihn durchaus den ihren nennen.«
»Aber wohnt sie denn nicht bei ihrem Mann?«, erkundigte sich Lea. »Sie müsste doch beim Vater des Hausherrn leben.«
Al Shifa zuckte die Schultern. »Natürlich, solange der lebt. Aber mitunter wird sie Witwe und zieht zu ihrem Sohn. Und sehr oft teilen sich ein Vater und seine Söhne auch einen einzigen Harem. Nur Fürsten können sich leisten, schon den ersten Frauen des fünfzehnjährigen Sohnes eigene Gemächer einzurichten.«
»Und du warst die Frau des Fürsten?«, fragte Lucia bewundernd. Sie konnte sich das gut vorstellen. Al Shifa war so schön und klug! Aber wie hatte es sie dann nach Mainz verschlagen? Das Mädchen schob ihr Buch unauffällig von sich. Das hier war interessanter als die Weisheiten Ar-Rasis!
Al Shifa schüttelte den Kopf. »Aber nein, Kleines, was denkst du«, meinte sie stattdessen. Sie schien ihren gesprächigen Tag zu haben. Oder befand sie ihre Zöglinge endlich für reif genug, ihre Geschichte zu verstehen? Auf jeden Fall machte sie keine Anstalten, Lucia zur Wiederaufnahme der Arbeit zu ermahnen. »Ich lebte im Harem des Emirs von Granada, aber den Herrn habe ich nur einmal gesehen.«
»Dann warst du nur Dienerin?«, fragte Lucia enttäuscht. Sie hatte sich Al Shifas früheres Leben immer sehr schillernd vorgestellt. Und nun war sie bloß eine Haussklavin gewesen?
»Auch das nicht«, erklärte Al Shifa. »Ich gehörte zum Haushalt des Herrn, ich war ihm geschenkt worden.«
Die Mädchen lauschten mit gespitzten Ohren und weit aufgerissenen Augen. Es gab nur wenige Sklaven in den Judenhäusern von Mainz - schon deshalb, weil es den Juden verboten war, christliche Unfreie zu besitzen. Aber auch in den reichen Adelsfamilien war es in deutschen Landen nicht üblich, Diener zu verschenken wie ein Schmuckstück oder ein edles Pferd. Meist waren die Unfreien an die Scholle ihrer Dörfer gebunden und verließen sie höchstens im Gefolge eines Herrn oder einer Herrin, dem oder der sie sich unentbehrlich gemacht hatten.
»Nun schaut nicht so, das ist so üblich in meinem Land!«, meinte Al Shifa mit einem Lächeln zwischen Bitterkeit und Wehmut. »Ich war von Kindheit an Sklavin ... zumindest solange ich denken kann. Geboren wurde ich in Freiheit, als Tochter eines Fischers. Aber dann brachen christliche Söldner in unser Dorf ein. Man nennt das Cabalgada, einen kleinen Überfall. Meine Eltern kamen dabei ums Leben. Was mit meinen Geschwistern geschah, weiß ich nicht. Ich selbst entging dem Tod und der Schändung, weil ich ein schönes Kind war und eine außergewöhnliche Stimme besaß. Man erzählte mir später, ich hätte neben all den Leichen gesessen und gesungen. So als wollte ich sie ins Leben zurückzaubern. Die Söldner fürchteten daraufhin, mich anzurühren. Ihr Hauptmann jedoch sah die Möglichkeit, ein gutes Geschäft zu machen. Er nahm mich mit und verkaufte mich an einen jüdischen Kaufmann, der auch
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