Die Pestärztin
Lea freute sich schon den ganzen Tag auf den Ausflug.
Lucia dagegen wollte mehr über Al Shifas Jugend erfahren. Sie atmete auf, als die Sklavin weitersprach. Al Shifa erzählte jetzt selbstvergessen; ihr Blick schien in weite Fernen gerichtet.
»Doch ich konnte die Frauen oft trösten. Zu den Fertigkeiten, die Farah ihre Mädchen gelehrt hatte, gehörte es auch, die Sprachen der Christen zu sprechen. Man verschenkte uns ja nicht nur an maurische Herrscher oder Handelsherren. Mitunter gingen wir auch zu christlichen ... hm, Würdenträgern ...«
Lucia fragte sich, wen genau Al Shifa damit meinte. Von maurischen Liebessklavinnen an christlichen Adelshöfen oder in den Häusern reicher Christen oder Juden hatte sie nie gehört. Wie hätten die Männer das auch ihren Gattinnen verständlich machen sollen?
»Eines Tages hörte die Mutter des Sultans - Zafira hieß sie -, dass ich mit einem der Mädchen sprach. Sie bat mich daraufhin, am Bett einer Wöchnerin, die sie von einem Kind ihres Sohnes entbinden sollte, zu übersetzen. Zafira interessierte sich für Medizin. Sie besaß sämtliche Werke der berühmten Ärzte und beschäftigte sich, indem sie die anderen Frauen im Harem als Heilerin und Hebamme betreute. Mitunter wurde sie sogar in andere Paläste gerufen. Der Emir konnte seinen Würdenträgern keine größere Gunst angedeihen lassen, als ihren Frauen seine Mutter zu schicken, wenn eine Geburt anstand. Ich diente Zafira zuerst als Übersetzerin; später weihte sie mich in die Feinheiten ihrer Kunst ein. So erwarb ich mein Wissen über Heilkunst. Und Zafira schenkte mir die Bücher von Ar-Rasi und Ibn Sina, als ich den Harem verließ.«
»Aber warum hat man dich fortgeschickt?«, wollte Lucia wissen, während Lea ungeduldig aufsprang. Die Geschichte schien zu Ende zu sein, und sie sah die Möglichkeit zu verschwinden.
Al Shifa zuckte die Schulter. »Nun, wenn du ein teures Geschenk erhältst, damit aber nichts anfangen kannst, ist es doch nur sinnvoll, wenn du es weiterverschenkst, nicht wahr?«, fragte sie bitter. »Der Sultan war klug genug, mich nicht anzurühren, und als Jungfrau behielt ich meinen Wert. Als Verhandlungen über einen Friedensschluss mit Kastilien anstanden, sandte man mich nach Toledo ...«
Lucias Gedanken arbeiteten fieberhaft. Toledo! In dieser Stadt hatte Benjamin von Speyer Al Shifa bekommen! Aber sie war ihm doch nicht geschenkt worden ...? Es war stets von einem Bischof die Rede gewesen, in dessen Haus sie gedient hatte. Und was war mit den Kindern, die sie geboren hatte?
Lucia öffnete schon den Mund, um zu fragen, aber jetzt schien auch Al Shifa genug zu haben. Sie löste sich mit einem Blick aus ihrer Geschichte, als tauche sie aus dunklen Wassern der Erinnerung auf. »Zieht euch um, Kinder, ihr müsst gehen. Die Herrin wird bereits warten. Es ist ein herrlicher Tag für einen Spaziergang. Der helle Sonnenschein und Seide aus Al Andalus ... ihr könnt euch beinahe in meiner Heimat wähnen!«
Lucia sah dem Ausflug mit gemischten Gefühlen entgegen. Seit sie fast erwachsen war, empfand sie es nicht mehr als selbstverständlich, jede Vergünstigung und jeden Luxus mit Lea zu teilen. Auch Sarah und Benjamin gaben ihr auf mehr oder weniger subtile Art zu verstehen, dass sie den Abstand zwischen dem Mädchen und ihrer Familie zu vergrößern wünschten. Das hatte mit jener Weigerung begonnen, ihr den Hausdiener als Schutz beizugesellen, und zog nun immer weitere Kreise. Lucia versuchte, die Einschränkungen vorauszuahnen, damit keine Demütigungen daraus wurden. Heute zum Beispiel machte sie keine Anstalten, mit Sarah und Lea in die Sänfte zu steigen, die vor dem Hause schon auf sie wartete, sondern ging ganz selbstverständlich nebenher. Sie kleidete sich auch möglichst bescheiden. Wenn Stoffe zur Auswahl standen, nahm sie einfaches Tuch. Sie brachte keine Verzierungen mehr an den Kleidern an, die sie sich nähte, und flocht ihr Haar zu unauffälligen Zöpfen, statt es wie Lea offen zu tragen. Anstelle des Schepels, des kranzartigen Kopfschmucks junger Mädchen, bevorzugte sie schlichte Hauben. Die Leute hielten Lucia und Lea denn auch längst nicht mehr für Zwillingsschwestern. Leas Schönheit wurde gerühmt, Lucia galt als eher unscheinbar.
Der Spaziergang durch die Gassen des Judenviertels zum Rhein hinunter, über den Karmeliterplatz und am Neubau des Klosters vorbei, machte Lucia dann jedoch Spaß. Sie hielt den Kopf züchtig gesenkt, als die Bauarbeiter ihr Zoten und
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