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Die Pestärztin

Titel: Die Pestärztin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ricarda Jordan
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vergewaltigte Hebamme war nicht Rachel. Und sowohl die Speyers als auch Leas Familie waren wohlauf.
 
    Die Priester machten nach wie vor die Verderbtheit ihrer Schäfchen für die Seuche verantwortlich. Der Pfarrer von St. Quintin predigte mit gewohnter Schärfe gegen die Entheiligung der Sonntage, das Fluchen und zu gedankenlose Schwüre auf Gott und die Heiligen. Um der Hoffart gänzlich zu entsagen, untersagte er den Gläubigen, beim Tod ihrer Familien Trauerkleider anzulegen. Niemand brauche mehr als ein Gewand, donnerte er, und das sei am besten ein Büßerhemd!
    Wenn die Pest »Unter den Wollengaden« weiter so wütete, dachte Lucia respektlos, würde es bald auch keine anderen Kleider mehr geben. Die Seuche war wohl in der Straße der Gewandschnitter und Schneider ausgebrochen und hatte inzwischen fast alle Mitglieder der Zünfte dahingerafft. Wieder ein Grund, die Schuld bei den Juden zu suchen. Vielleicht hatten die Kaufleute das Tuch, das sie den Christen verkauften, ja vorher in verseuchtes Wasser getaucht!
    Gelehrtere Menschen machten dagegen eher den Stand der Gestirne oder eine Umlagerung des Erdorganismus für die Entstehung der Seuche verantwortlich. Eine Lösung für das Problem boten sie jedoch nicht.
    Schließlich rief der Bischof am 18. August, dem Tag des »Pestheiligen« Rochus, eine große Prozession aus, in deren Rahmen verschiedene Heilige von den wichtigsten Mitgliedern der Zünfte durch die Stadt getragen wurden.
    In der Familie des Johann Wormser kam es darüber zu heftigen Streitigkeiten.
    »Selbstverständlich werde ich hingehen!«, erklärte Meister Wormser bestimmt. »Und ich werde meinen Platz als Träger einnehmen wie alle anderen Zunftmeister auch ...«
    »Und womöglich teilt man Euch neben einen Gewandschnitter ein«, gab Lucia zu bedenken. »Und morgen habt Ihr dann die Pest.«
    Sie bekreuzigte sich. Johann und Agnes Wormser taten es ihr ängstlich nach.
    »Gott wird die Hand über die Bittprozession halten. Der Bischof hat uns versichert ...«
    »Das hat er beim letzten Mal auch versichert!«, fiel Lucia ihrem Herrn ins Wort. »Und nun sind alle tot, die den Heiligen Sebastian durch die Stadt getragen haben - auch der Anton Westphal, der vor Fieber schon nicht mehr gerade laufen konnte, als man ihm das Standbild auflud!«
    »Der Pfarrer hat es ihm aufgeladen. Diesmal tut es der Herr Bischof!«, bemerkte Wormser.
    Lucia verdrehte vielsagend die Augen.
    »Und überhaupt - wie sähe es aus, wenn ich mich weigern würde?«, meinte Wormser. »Man hat mich ausdrücklich aufgefordert ...«
    »Wir könnten sagen, du seist erkrankt«, meinte Agnes schüchtern. Lucia wunderte sich über die zarte, kleine Frau. Agnes Wormser hätte keinen Augenblick gezögert, hätte man sie selbst zum Dienst an der Gemeinde berufen. Den Gedanken jedoch, ihren Gatten in Gefahr zu sehen, konnte sie nicht ertragen.
    »Worauf ich dann gleich mein Geschäft zumachen kann! Man ist nicht mehr einfach >krank< in Mainz! Jeder würde glauben, ich hätte die Pest.«
    Johann suchte nach seinem feinsten Rock, um sich angemessen für die Prozession zu kleiden.
    Lucia machte einen letzten Versuch. »Wenn Ihr wenigstens ...«
    »Nein, Lucia, keine weiteren Einwände! Und ich werde mich auch nicht in Rotwein baden, bevor ich meinen Platz in der Reihe einnehme! Ihr solltet das auch unterlassen, wenn ihr mitgeht, wir riechen ja wie die Säufer! Von mir aus nimm eine Lampe mit, und verbrenn darin Weihrauch, Lucia. Aber kein Wein und kein Branntwein!«
    Auch Johann war es sichtlich unangenehm, seine Agnes und den kleinen Bonifaz der Ansteckungsgefahr auszusetzen. Aber selbst hier kannte er kein Pardon: Am St. Rochus-Tag musste seine gesamte Familie auf die Straße. Schon damit der Pfarrer nicht wieder Agnes als Zielscheibe für seine Predigten gegen die Hoffart auserkor.
    Lucia nahm sich ein Beispiel an Al Shifa und stellte verschiedene duftende Kräuter zusammen, um den Pestatem fernzuhalten. Sie verbrannte Weihrauch und hielt Agnes und Stefan an, die Düfte vor der Prozession einzuatmen und auf ihre Haut und in ihre Kleidung einwirken zu lassen. Zudem führte sie ein Weihrauchgefäß mit sich, als sie ihre Herrschaft auf die glühend heißen Straßen zum Domviertel begleitete. Die Prozession formierte sich bereits auf dem Domplatz; die ganze Stadt schien auf den Beinen zu sein. Lucia erkannte zu ihrer Beruhigung, dass Meister Wormser nicht neben einem Schneidermeister, sondern neben seinem Freund Meister Klingenberg die

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