Die Pestärztin
keine Ehrenmänner; Lucia roch den Brantwein, mit dem sie sich vor der Prozession gestärkt hatten, schon von weitem.
»Was macht denn die Judengöre hier? Unter all den braven Zunftfrauen? Bisschen hexen, Kleine? Wenn sich hier morgen eine mit der Seuche hinlegt ...«
»Lasst mich los!« In Leas Stimme schwang Panik. »Ich bin keine Hexe!«
»Sie hat sich nur verlaufen.« Lucia drängte sich zu ihrer Freundin durch und versuchte sich an hilflosen Erklärungen. »Sie dachte, eine Freundin in mir erkannt zu haben, und dann ...«
»Sie hat doch wohl keine Freundinnen unter Christen, oder? Nein, nein, kleine Hexe, du bleibst jetzt bei uns, mal sehen, was die Geistlichkeit dazu zu sagen hat ...« Der Mann fasste Lea rüde unter den Arm, ein anderer sah ihr lüstern ins Gesicht.
»Ein hübsches Hexlein! Wenn man sich nur nicht vergiften tät an dem Judengezücht!« Der Mann riss den Schleier von Leas Haar, was der jungen Frau einen Schrei entlockte. Verheiratete Jüdinnen bedeckten ihr Haar in der Öffentlichkeit mit peinlicher Sorgfalt. Nur ihr Gatte sollte die Pracht sehen.
»Lasst sie los!«, schrie Lucia. Sie dachte ernstlich daran, dem Mann ihr Weihrauchgefäß ins Gesicht zu schleudern, aber dann hätte der Zorn des Mobs sich wohl gänzlich entladen. Dennoch schwenkte sie das kugelförmige Gefäß - und hätte beinahe Benjamin von Speyer getroffen, der sich eben stark und selbstbewusst wie ein Fels zwischen die drei Gauner und seine Tochter schob. Neben ihm erschien der »Judenbischof«. Beide trugen Waffen.
Lea schluchzte, doch ihre Peiniger wirkten ernüchtert.
»Ihr wisst, dass wir unter dem Schutz des Bischofs stehen. Wir wurden zu dieser Prozession geladen, um gemeinsam mit euch um eine Befreiung von der Seuche zu bitten. Glaubt ihr, Gott wird sie euch gewähren, wenn ihr euch vor dem Beten betrinkt und dann ehrbare Frauen belästigt?«
»Was weißt du denn schon, Jude ...« Einer der Kerle wagte noch einmal aufzubegehren, aber dann verzog er sich doch lieber, als eine Anzeige beim Bischof zu riskieren. Benjamin von Speyers lodernder Blick richtete sich auf seine Tochter - und traf dann Lucia.
»Du schon wieder! Reicht es nicht, dass du meinen Sohn verführst? Willst du auch noch meine Tochter ins Unglück stürzen?«
»Vater, ich ... sie ist doch gar nicht schuld ...« Lea setzte zu einer Erklärung an. Wenigstens ließ sie Lucia nicht im Stich.
Lucia aber hatte jetzt genug.
»Bin ich unter den Juden, oder hat sich Eure Tochter in die Reihen der Zunftfrauen gemischt?«, fragte sie böse. »Hört zu, Herr von Speyer, ich will weder etwas von Eurem Sohn noch von Eurer Tochter! Also lasst mich in Ruhe! Und sagt das auch Euren Kindern. So, und nun will ich beten. Auch für Euren lüsternen Sohn!«
Damit drehte Lucia sich um und versuchte, der neugierigen Menge zu entgehen, die ihren Disput mit dem Juden gehört hatte. Zum Glück waren es nicht viele. Die Prozession schritt rasch vorwärts, und in den Zeiten der Pest hatte jeder mit eigenen Dämonen zu kämpfen.
4
W irkliche Liebe war anders als das, was David für Lucia empfunden hatte. Das wurde dem Mädchen gleich am Abend der Prozession wieder schmerzlich bewusst, als Johann Wormser zu seiner Agnes heimkehrte. Agnes war selbst erschöpft nach dem Tag auf der Straße, doch sie versäumte nichts, um ihren Johann die Strapazen des frommen Umzugs vergessen zu lassen. Die Zunftbrüder hatten dabei Beträchtliches geleistet; die Statuen der Heiligen lasteten schwer auf ihren Schultern, und die Prozession zog sich Meilen und Meilen hin. Überdies hatte Meister Klingenberg nicht seinen ganzen körperlichen Einsatz bringen können. Johann hatte ihn entlasten müssen, wenn er schwankte und stolperte. Am Ende der Prozession war sich der Schreiner sicher gewesen, dass sein Freund fieberte.
»Aber das kann ja auch bloß eine Erkältung sein«, beruhigte Johann die besorgte Agnes. »Mir tut auch alles weh. Am besten, wir gehen früh zu Bett.«
Lucia sagte nichts dazu und verbrannte Weihrauch. Dennoch konnte Johann am nächsten Morgen nicht aufstehen. Von Schüttelfrost und Kopfschmerzen geplagt, schaffte er es kaum, sich aufzusetzen. Lucia fühlte seinen Puls: Er ging schneller und zugleich schwächer.
Agnes saß neben ihm und streichelte hilflos seine Stirn.
»Es ist doch nicht die Pest, Lucia? Bitte sag mir, dass es nicht die Pest ist!« In Agnes' Augen stand das pure Entsetzen - und erster Fieberglanz. »Es ist sicher nur die Aufregung. Mein Kopf
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