Die Pestärztin
Türschwelle.
Lucia glaubte nicht an die Heilkraft des Pulvers gegen die Pest. Seit Wochen wurde es als vorbeugendes Mittel gepriesen, und wie die Leute sich erzählten, schluckten es sämtliche Mitglieder des Magistrats nach jeder Mahlzeit. Trotzdem waren schon drei gestorben.
Lucia dankte dennoch zögerlich und nahm den Theriak. Es hätte schließlich auch nichts genutzt, dem Apotheker zu widersprechen. Der Mann berechnete ihr mehr als den doppelten Preis, der normalerweise zu zahlen gewesen wäre, doch Lucia war zu erschöpft, um zu feilschen. Sie legte hin, was sie hatte, und machte sich davon. Wahrscheinlich war es hoffnungslos, im Heilig-Geist-Spital um Hilfe zu bitten. Sie sah auch niemanden an der Pforte. Die Mönche hatten sich mit ihren Patienten hinter den Mauern verschanzt. Pestkranke ließen sie bestimmt nicht ein.
Während Lucia noch überlegte, ob sie es bei den wenigen Ärzten oder in einer weiteren Apotheke versuchen sollte, fiel ihr am Eisenturm eine merkwürdige Gestalt auf, die offensichtlich Einlass in die Stadt begehrte. Trotz der Hitze trug sie einen weiten, gewachsten Mantel und einen Kopfschutz, der in einer Art schnabelförmigen Maske auslief. Sie bedeckte das Gesicht des Mannes vollständig, aber jetzt ließ er sie sinken, um mit den Stadtbütteln zu verhandeln.
»Was soll denn so seltsam daran sein, dass ich nach Mainz hinein möchte?«, erkundigte er sich.
Lucia sah die klaren, ernsten Züge eines noch jungen Mannes, ein fein geschnittenes Gesicht mit jetzt vor unterdrückter Ungeduld blitzenden braunen Augen, gerader Nase und vollen Lippen. Ein paar hellbraune Haarsträhnen schauten unter der Kapuze hervor.
Die Stadtbüttel lachten. »Nun, wenn Ihr nicht selbst erkennt, dass Ihr ein wenig seltsam daherkommt, seid Ihr sicher reif fürs Narrenhaus!«, bemerkte einer von ihnen. »Was soll das sein, eine Mönchskutte? Und ist Euch Eure Nase nicht lang genug, dass Ihr zudem solch einen Schnabel braucht?«
Die Männer lachten dröhnend.
»Dazu ist schon Euer Begehren seltsam«, meinte ein anderer Büttel. »Hier herrscht die Pest, guter Mann. Da will man raus, nicht rein!«
Der Ankömmling nickte gelassen.
»Eben deshalb bin ich hier«, erklärte er. »Und diese Kutte, wie Ihr sie nennt, soll mich vor der Krankheit bewahren. Man hat sie in Italien entwickelt, da trägt sie jeder Pestarzt. Und Pestärzte braucht Ihr doch in Mainz, oder irre ich mich?«
»Ihr seid ein Medikus?« Lucia stürzte auf die Pforte zu. »Dann müsst Ihr ihn einlassen, Stadtbüttel, ich brauche dringend einen Arzt. Das Kind hier ... es stirbt!« Sie hielt Fygen hoch, und die Büttel wichen entsetzt vor ihr zurück. Darüber machten sie dem seltsam gekleideten Mann den Weg frei. Er trat mit einer leichten Verbeugung ein.
»Clemens von Treist«, stellte er sich vor. »Ich habe die Medizin in Salerno, Montpellier und Flandern studiert.«
»Und Ihr könnt die Pest heilen?«, fragte Lucia hoffnungsvoll. Vielleicht gab es ja doch einen Christus im Himmel, der ihr jetzt diesen Arzt schickte!
Der Mann wich immerhin nicht zurück, als sie ihm ihr Bündel mit Fygen hinhielt. Das Kind war seit einiger Zeit still, nachdem es vorhin leise gewimmert hatte.
»Ich versuche es«, antwortete von Treist und beugte sich über Fygen. Dabei vergaß er, die Maske wieder aufzusetzen. »Noch gibt es kein Heilmittel, das sicher hilft, aber man kann es ja nur finden, wenn man Wirkstoffe ausprobiert. In Paris war ich an der Erstellung eines Gutachtens über die Pest beteiligt, aber wir kamen zu keinem Ergebnis. Jetzt reise ich der Krankheit nach. Ich will wissen, woher sie kommt. Ich will sie besiegen!« Die letzten Worte sprach der junge Arzt voller Leidenschaft; dann aber fiel ein Schatten über sein Gesicht. Während sein Finger nach dem Puls des Kindes tastete, verschleierte sich sein Blick.
»Hier kann ich nicht helfen, Mädchen«, sagte er, und in seiner Stimme lag echtes Mitgefühl. »Tut mir leid, aber das Kind ist bereits tot.« Der Arzt schlug das Kreuz über Fygens Gesicht und deckte es behutsam mit dem Tuch zu, in dem Lucia das kleine Mädchen getragen hatte.
»Aber ... aber das kommt zu plötzlich! Es dauert doch sonst meist drei Tage, und ...« Lucia war fassungslos. Fygen durfte nicht tot sein! Nicht dieses erste Kind, das sie zur Welt geholt hatte! Nicht der Augenstern ihrer Herrin! Wie sollte sie wieder vor Agnes hintreten? Aber dann kam ihr zu Bewusstsein, dass auch Agnes krank daniederlag. Und sie selbst
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